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Bei der allgemeinen Mobilmachung im August 1914 wurden auch die wehrfähigen Armenier von Zeitun eingezogen, ohne daß sich irgend ein Widerstand dagegen erhob. Als aber im Oktober der Vorsteher der Gemeinde von Zeitun, Nazaret Tschausch,2) mit einem Geleitsbrief des türkischen Kaimakam (Landrat) nach Marasch kam, um dort amtliche Fragen zu ordnen, wurde er trotz freien Geleits ins Gefängnis geworfen, wo er gefoltert wurde und starb. Gleichwohl verhielten sich die Leute von Zeitun ruhig. Es schien aber, als ob die Behörden Anlaß zum Einschreiten suchten. Saptiehs (türkische Gendarmen), die in der Stadt den Sicherheitsdienst hatten, belästigten die Einwohner, drangen in die Häuser ein, plünderten Magazine, mißhandelten harmlose Leute und entehrten Frauen. Die Einwohner von Zeitun bekamen den Eindruck, daß man etwas gegen sie vorhabe, blieben aber ruhig. Im Dezember 1914 wurde die Auslieferung aller Waffen angeordnet, was ohne Zwischenfall erfolgte. Hätten in irgend einem späteren Zeitpunkt die Armenier von Zeitun noch an Widerstand gedacht, so wären sie nach der Entwaffnung dazu nicht mehr imstande gewesen. Es blieb denn auch den ganzen Winter über ruhig in Zeitun. Da geschah es im Frühjahr, daß türkische Gendarmen armenische Mädchen entehrten, wobei es zu einer Schlägerei kam, an der sich etwa 20 armenische Hitzköpfe beteiligten und auf beiden Seiten einige getötet wurden. Die beteiligten Armenier, unter denen sich einige Deserteure befanden, flohen, um der Bestrafung zu entgehen, in ein Kloster, das dreiviertel Stunden nördlich von der Stadt liegt, wo sie sich verbarrikadierten.

Zum Erstaunen und Schrecken der Bewohner von Zeitun kam bald darauf, es war Anfang März 1915, ein großes militärisches Aufgebot, – man sprach von vier bis sechs Tausend Soldaten – von Aleppo nach Zeitun. Das Aufgebot von Militär gegen Zeitun erregte in ganz Cilicien die größte Besorgnis.


[Ξ] 2)

Über Nazareth Tschauch und die Entstehung der Unruhen in Zeitun vgl. Lepsius, Dtschl. und Arm. S. IX ff. und die Berichte von Konsul Roeßler, Aleppo, Aktenstücke Nr. 11 und 25.

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Der Todesgang des armenischen Volkes. Tempelverlag, Potsdam 1919, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Todesgang_des_armenischen_Volkes.pdf/40&oldid=- (Version vom 31.7.2018)