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im kleinen sind durchaus zu vereinen mit rücksichtsloser Energie im großen. Gerade im Hinblick auf die Stärke und Gefährlichkeit unserer Sozialdemokratie ist es notwendig, daß die Regierenden zu unterscheiden wissen zwischen dem Reich bürgerlicher Freiheit, das mit Nachsicht verwaltet werden muß, und dem Reich öffentlicher, staatlicher Herrschaft, das mit Kraft und Festigkeit zu regieren ist. So irreführend der Vergleich deutscher und ausländischer Zustände im allgemeinen ist, hier ist ein Gebiet, auf dem England Muster und nachahmenswertes Vorbild ist. So rücksichtslos in England jede Störung der öffentlichen Ordnung unterdrückt wird, so peinlich rücksichtsvoll werden die kleinlichen Schikanen vermieden, die dem einzelnen Freiheit und Behaglichkeit stören. Die deutsche Staatsverdrossenheit ist in England fast unbekannt. Aber der Engländer ist nicht zuletzt deshalb ein so guter Staatsbürger, weil er in seinem Staat ein so freier Privatmann sein darf. Die bei uns noch vielfach schwankenden Grenzen der Wirksamkeit des Staates stehen in England fest.

Niemand wird heute glauben, daß die Sozialdemokratie in absehbarer Zeit aufhören wird, in unserem öffentlichen Leben eine Macht und eine große Gefahr zu sein. Der Kampf gegen sie ist aber keineswegs zur Aussichtslosigkeit verurteilt. Die Sozialdemokratie ist in ihrer parlamentarischen Machtstellung sehr wohl verwundbar. Die Wahlen von 1907 haben gezeigt, in wie nachdrücklicher Weise sie getroffen werden kann. Die sozialdemokratische Bewegung kann auf das Proletariat isoliert und nach allen geschichtlichen Erfahrungen der Aussicht auf einen schließlichen Sieg beraubt werden, wenn es gelingt, sie vom Bürgertum zu trennen. Wenn der Staat dem Arbeiter vorurteilslos und gerecht begegnet, es ihm erleichtert, sich als Vollbürger zu fühlen und sozialpolitisch seine Pflicht tut, so muß und wird es ihm gelingen, die Arbeiterfrage in nationalem Sinne zu lösen. Durch das scheinbar kleine, an Wirkung aber bedeutsame Mittel geschickter und weitherziger Staatsverwaltung ist es möglich, den Strom der sozialdemokratischen Zuläufer abzustauen. Endlich kann die rücksichtslose Energie in der Unterdrückung eines jeden Versuchs, die öffentliche Ordnung zu stören, der Sozialdemokratie die Aussichtslosigkeit solcher etwa im großen Maßstabe geplanten Versuche vor Augen halten. Solange die Sozialdemokratie nicht die Voraussetzungen erfüllt, die ich vor bald elf Jahren ihr gegenüber als die unerläßliche Vorbedingung einer Milderung der Gegensätze zwischen ihr und uns bezeichnete, solange sie nicht den Boden der Vernunft, der Legalität betritt, nicht ihren Frieden mit der monarchischen Staatsordnung schließt, nicht darauf verzichtet, Gefühle zu verletzen, die der großen Mehrheit des deutschen Volkes heilig sind, solange sie bleibt, wie sie ist, wird der Kampf gegen sie eine unerläßliche Pflicht der Regierung sein. Die Regierung darf diesen Kampf nicht den Parteien überlassen, sie muß ihn selbst führen. Denn die sozialdemokratische Bewegung bedroht nicht nur die eine oder die andere Partei in ihrem Bestande, sie ist eine Gefahr für das Land und die Monarchie. Dieser Gefahr muß die Stirn geboten werden durch eine groß und vielseitig angelegte nationale Politik unter der festen Führung zielbewußter und tapferer Regierungen, die es verstehen, die Parteien, sei es im guten, sei es durch Kampf, unter die Kraft des nationalen Gedankens zu beugen.


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Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 99. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/115&oldid=- (Version vom 31.7.2018)