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internationalen Privatrechts ebenso der Gegenstand seiner Lehren wie seine positiven Normen. Das ist der Sinn, in welchem heute das internationale Privatrecht als Wissenschaftsdisziplin besteht.

Erstreckung über alle Zweige der Rechtsordnung.

V. Es ist mit den letzten Bemerkungen bereits darauf hingewiesen, daß die heute erkannte und betätigte Erstreckung des internationalen Privatrechts über alle Zweige der gesamten Rechtsordnung mehr bedeutet als die Durchführung eines bloßen Querschnittes durch die gesamten Einzeldisziplinen hindurch. Die Auffassung, welche dieses letztere annimmt, wird zwar noch vereinzelt vertreten, kann aber gegenüber dem Inbegriff der modernen Entwickelung nicht mehr standhalten. Daß in jedem einzelnen Abschnitt des Rechtes, ja bei fast jedem einzelnen Rechtsinstitut, sich Gelegenheit bietet und das Bedürfnis bestehen kann, die internationale Beziehung zu untersuchen, oder wie man auch sagt, „den örtlichen Geltungsbereich der Rechtssätze zu untersuchen“, hat dazu geführt, daß in jeder einzelnen Disziplin ein Abschnitt dieser Lehre gewidmet zu werden pflegt, oder daß gar bei jedem einzelnen Rechtsinstitut die international-privatrechtliche Frage erörtert wird. Dadurch kann aber die systematische Behandlung des internationalen Privatrechts im ganzen wissenschaftlich nicht ersetzt werden. Dieses Ganze ist nicht nur mehr, sondern es ist auch etwas anderes als die Summe jener Teile. Denn nur bei systematischer Untersuchung der Gesamtheit aller Beziehungen des Inhaltes der verschiedenen Rechtsordnungen zueinander kann man zu überragender Erkenntnis der Probleme und zu ihrer methodisch sicheren Lösung gelangen. Nur auf jener breiten Grundlage erwächst die Rechtsvergleichung als Wissenschaft. Ohne diese ist das internationale Privatrecht ein Chaos von zufällig zusammengeworfenen Fallfragen. Nur die Rechtsvergleichung ergibt die theoretische, d. h. richtige Fragestellung für das internationale Privatrecht. Insofern ist die Rechtsvergleichung (d. h. das vergleichende Studium der verschiedenen modernen Rechtsordnungen in allen ihren Teilen) Bestandteil des internationalen Privatrechts. Auch diese Erkenntnis ist erst in den letzten Jahrzehnten gewonnen worden und zu praktischer Geltung gekommen.

VI. Eines der wichtigsten aus der neuen Methodik entsprungenen Ergebnisse ist die Einsicht, daß die einzelnen Rechtssätze der verschiedenen Rechtsordnungen nur zu einem verhältnismäßig geringen Teil zueinander im Verhältnis jener Kommensurabilität stehen, welche man früher in großer Unbefangenheit im allgemeinen als selbstverständlich voraussetzte. Wir wissen heute, daß man zwar die verschiedenen Großjährigkeitstermine der einzelnen Rechtsordnungen, Ehehindernisse und Ehescheidungsgründe, Viehmängellisten beim Kauf, Formvorschriften und vieles andere dieser Art auf einen gemeinsamen Nenner bringen und dann mittels einer Kollisionsnorm verhältnismäßig glatt zur Entscheidung bringen kann. Dagegen erweisen sich z. B. die verschiedenen Systeme der Nichtigkeit und Anfechtung der Rechtsgeschäfte, und manche elementar scheinende Grundsätze des Rechtes der Schuldverhältnisse als inkommensurabel und darum als der elementaren internationalprivatrechtlichen Behandlung, wie wir

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 351. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/367&oldid=- (Version vom 4.8.2020)