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berechtigte zu dem stolzen Streben, nicht nur die errungene Machtstellung zu behaupten, sondern auch eine erweiterte Einflußsphäre und mit ihr eine steigende Weltgeltung zu gewinnen. Dieses Streben wurde zur Notwendigkeit, nachdem die Grundlagen einer Kolonialpolitik gelegt waren, und die rasche Volkszunahme den Wunsch nahelegte, Siedelungsgebiete zu gewinnen und den Export weiter zu steigern, um für die wachsenden Massen Arbeitsgelegenheit zu schaffen; es wies hinaus auf das Weltmeer und ließ die Notwendigkeit auch einer starken Rüstung zur See erkennen, zum Schutz des Handels und der kolonialen Betätigung.

Heeresentwicklung Hauptaufgabe des Staats.

So ergaben sich vom Anfang der Regierung Wilhelms II. an zwei gewaltige Aufgaben: der Ausbau des Heeres zur Behauptung der innereuropäischen Stellung und der Bau einer Flotte zur Geltendmachung der notwendigen Weltmachtbestrebungen. Beide Aufgaben ergänzten sich. Eine Weltpolitik war ohne starke Seerüstung nicht denkbar; aber anderseits mußte auch die stärkste Flotte erfolglos bleiben, wenn es den Gegnern Deutschlands gelang, es auf dem Lande niederzuringen und seiner europäischen Machtstellung zu berauben. So ergab sich denn als wichtigste Aufgabe des Staats eine Entwickelung der Heereskraft, die die Überlegenheit Deutschlands unter allen Umständen sicherstellte.

Der Kaiser fand im Volke zunächst wenig Verständnis für diese Gedankengänge. Die Einsicht, daß Deutschland einer Flotte bedürfe, brach sich erst sehr allmählich Bahn, und dem Ausbau des Landheeres setzte die Volksvertretung in vollendeter politischer Unfähigkeit und Kleinkrämerei einen zähen Widerstand entgegen. Der Kampf gegen die Auffassungen des Reichstages kennzeichnet fast während der ganzen Regierungszeit Wilhelms II. die allmähliche Entwickelung des Heeres. Später waren ihr auch die hohen Forderungen für die Seerüstung vielfach nachteilig, und manchmal gewann es den Anschein, als ob das Verständnis für die Tatsache fehle, daß ein genügend starkes Landheer die notwendige Grundlage für jede politische Betätigung, besonders aber für die Überseepolitik Deutschlands bilde.

Heeresvorlage 1890.

Als Kaiser Wilhelm II. die Regierung antrat, zählte das Heer ohne Offiziere, Beamte, Ärzte und Einjährig-Freiwillige 468 409 Mann. Es war in 15 Armeekorps und 2 bayerische eingeteilt und bestand aus 534 Bataillonen Infanterie, 465 Eskadrons, 364 Batterien, 31 Fußartillerie-, 19 Pionier-, 5 Eisenbahn- und 18⅓ Train-Bataillonen. Im Frühjahr 1888, als ein Krieg unmittelbar bevorzustehen schien, war die Dienstpflicht in der Landwehr bis zum 39. Lebensjahr verlängert und dadurch das Kriegsheer um etwa 700 000 Mann verstärkt worden. Diese Verhältnisse aber entsprachen keineswegs dem Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht und der Gerechtigkeit. Zahlreiche diensttaugliche Jünglinge konnten nicht eingestellt, im Kriegsfall mußten die alten gedienten Leute gegen den Feind geführt werden, während zahlreiche Jungmannschaft erst auszubilden war. Die als Ersatzreservisten eingezogenen Mannschaften dienten nur zehn Wochen, genossen also eine wesentliche Bevorzugung.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 362. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/378&oldid=- (Version vom 4.8.2020)