Seite:Deutschland unter Kaiser Wilhelm II Band 1.pdf/75

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

in Konfliktsmomenten mit elementarer Hitzigkeit gegeneinander zu rennen und sich nicht selten zu Exzessen hinreißen zu lassen, die wir Deutschen nicht kennen. Aber der leidenschaftlichen Entladung, die über Sieg und Niederlage einer Partei oder Parteigruppierung entscheidet, pflegt dort bald eine Annäherung und Aussöhnung zu folgen. Anders bei uns. Die wilde, fanatische Leidenschaft erregter Kämpfe, die sich wie ein Gewitter entlädt, aber auch gleich einem Gewitter die parteipolitische Luft reinigt, fehlt unserem deutschen Parteileben. Aber es fehlt ihm auch die leichte Versöhnlichkeit. Wenn deutsche Parteien einmal in Opposition gegeneinander gestanden haben, und es braucht dabei gar nicht um die letzten Dinge des politischen Lebens gegangen zu sein, so vergessen sie das einander nur schwer und langsam. Die einmalige Gegnerschaft wird gern zur dauernden Feindschaft vertieft, es wird womöglich nachträglich ein prinzipieller Gegensatz der politischen Grundanschauungen konstruiert, der ursprünglich den verfeindeten Parteien gar nicht bewußt gewesen ist. Oft, wenn besonnenen und wohlgemeinten Ausgleichs- und Verständigungsversuchen der unüberwindliche Gegensatz der Überzeugungen entgegengehalten wird, ist dieser Überzeugungsgegensatz erst entdeckt worden nach sehr nahe zurückliegenden Parteikonflikten, bei denen es entweder um nebengeordnete Fragen der nationalen Politik oder gar um parteipolitische Machtfragen ging. Wer ein wenig jenseits des Parteigetriebes und Parteizauns steht, begreift oft nicht, warum unsere Parteien für die Erledigung von an sich unbedeutenden Fragen der Gesetzgebung nicht zusammenkommen können, warum sie geringfügige Meinungsverschiedenheiten über Details der Finanz-, Sozial- oder Wirtschaftspolitik mit einer Feindseligkeit ausfechten, als gälte es, Bestehen und Vergehen des Reichs. Gewiß spielt da die löbliche deutsche Gewissenhaftigkeit im kleinen mit, aber sie entscheidet nicht. Entscheidend ist die Tatsache, daß den einzelnen Parteien die Abneigung gegen die Nachbarpartei wesentlicher ist als die in Frage stehende gesetzgeberische Aufgabe, die oft nur als willkommene Gelegenheit ergriffen wird, den vorhandenen parteipolitischen Gegensatz recht nachdrücklich zu unterstreichen.

Deutscher Parteisinn und deutsche Parteitreue.

Im ursächlichen Zusammenhange mit der Unverträglichkeit der Parteien untereinander steht die unerschütterliche Treue innerhalb der Parteien. Eben, weil der deutsche Parteimann so fest, ja liebevoll der eigenen Partei anhängt, ist er so intensiver Abneigung gegen die anderen Parteien fähig und vergißt so schwer die einmal von ihnen erlittenen Kränkungen und Niederlagen. Auch hier im modernen Gewande eine Wiederkehr der alten deutschen Art. Wie die Stämme, die Staaten ineinander zusammenhielten und sich untereinander nicht vertragen konnten, so heute die Parteien. Die sprichwörtliche deutsche Treue kommt dem kleinen politischen Verbande in erster Linie, erst in zweiter Linie der großen nationalen Gemeinschaft zugute. Um die reiche Anhänglichkeit, die der Parteisache von selbst zuströmt, wird eine deutsche Regierung meist vergeblich werben. Das hat selbst Bismarck erfahren müssen. Der Bezwinger des staatlichen Partikularismus hat des Partikularismus der Parteien nicht Herr werden können. Trotzdem er Vertrauen und Liebe des deutschen Volkes in einem Maße gewonnen hatte wie kein anderer, ist Fürst Bismarck im Wettbewerb mit der Anhänglichkeit, die dem Parteiführer

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 59. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/75&oldid=- (Version vom 31.7.2018)