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Vitriolöl, Salzsäure und Salpetersäure, ferner Schwefel, Ultramarin und andere Farbstoffe erstreckte. Die Chemie lag damals ausschließlich in den Händen von Ärzten und Apothekern oder von Goldmachern, Betrügern und Selbstbetrügern und hatte öfters einen Anstrich von Zauberei und Charlatanerie.

Erst dem Ende des achtzehnten und dem neunzehnten Jahrhundert war es vorbehalten, die schwarze Kunst zur Wissenschaft zu erheben, welche nunmehr feststellt, daß bei der Umformung der Stoffe und der Kräfte kein Atom und keine Energie verloren geht, daß es in der Natur nur eine Wahrheit gibt und daß ein unter denselben Bedingungen angestellter Versuch stets dieselben Resultate liefert.

Diese besonders durch die Forscher Lavoisier, Scheele, Priestley, Richter und Dalton begründete und durch Berzelius, Liebig, Wöhler, Bunsen, Kolbe, A. W. Hofmann und Aug. Kelulé ausgebaute Wissenschaft konnte nun als sichere, vertrauenswürdige Führerin für das chemische Gewerbe auftreten. Sie zeigte den Weg, zufällig gemachte Entdeckungen richtig zu deuten und zielbewußt zu erfolgreichen Erfindungen auszubauen.

Aber noch in der Mitte des vorigen Jahrhunderts war in Deutschland die chemische Industrie klein und kümmerlich gegenüber der schon damals in England und Frankreich vorhandenen. Damals existierten in Preußen nur etwa 260 chemische Betriebe mit zusammen 3500 Arbeitern. Die im Jahre 1861 veranstaltete Gewerbezählung des Zollvereins ermittelte, daß in 1480 chemischen Fabriken (Koks- und Gasanstalten, Chemikalien- und Farbenfabriken, Fabriken von Zündwaren, Seifen und Paraffin) zirka 24 000 Arbeiter beschäftigt waren. Deutschland war damals ein überwiegend agrarischer Staat, welcher sich fast nur auf die Erträge der Landwirtschaft und Forstwirtschaft stützte.

Umschwung im letzten Vierteljahrhundert.

Ein vollständiger Umschwung dieser Verhältnisse ist erst mit der Gründung des Deutschen Reiches eingetreten, namentlich im letzten Vierteljahrhundert, so daß Deutschland sich immer mehr und mehr zum Industriestaat zu entwickeln beginnt.

Im Jahre 1894 waren in den 5758 chemischen Betrieben Deutschlands bereits 110 348 Arbeiter und erhielten 98 621 506 M. an Löhnen. Bis zum Jahre 1912 ist die Zahl der Betriebe auf 9147, die Zahl der darin beschäftigten Vollarbeiter auf 249 819 und die Zahl der Einzelarbeiter auf 472 596 gestiegen. An Löhnen und Gehältern wurden in diesem Jahre 324 712 477 M. gezahlt. Für Unfallentschädigungen wurden 3 198 398 Mark verausgabt.

Diese Zahlen beweisen deutlich genug, in welchem außerordentlichen Maße die Arbeitskräfte zugenommen haben, die zurzeit in der chemischen Industrie tätig sind, und zeigen damit auch deren beispiellose Entwickelung in verhältnismäßig kurzer Zeit.

Das konnte aber nur dadurch geschehen, daß die moderne chemische Industrie sich nicht allein bei allen Maßnahmen auf ihre eigene Wissenschaft stützte, sondern sich auch sonst alles zunutze machte, was die moderne Wissenschaft und Technik in verwandten Fächern leistet. Dem weitschauenden Blick des deutschen Kaufmanns war es dann vorbehalten, die Ergebnisse in erfolgreiche Bahnen zu leiten.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 580. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/143&oldid=- (Version vom 31.7.2018)