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Mit Recht erscheint dem Kaiser überhaupt der Männergesang, der in Deutschland so weite Verbreitung hat, als das geeignetste Organ zur Pflege volkstümlicher Tonkunst und besonderer Förderung wert. Die Einrichtung der Wettsingen um eine von ihm gestiftete Kette ist dafür ein Zeichen. Man könnte von vornherein zweifelhaft sein, ob die Übertragung des Sportbetriebes auf die Kunst ersprießlich sei, die Tatsache aber, daß seit der Zeit, wo das Kaiserwettsingen stattfindet, die Kultur unserer Männerchöre wahrhaft erstaunliche Fortschritte gemacht hat, beweist, daß die Voraussetzung richtig gewesen ist. Auch die Jugend wird jetzt mehr und mehr dem Volkslied gewonnen. Es ist eine Freude, einem Trupp „Wandervögel“ zu begegnen und zu hören, wie schöne Lieder sie singen und wie gewandt sie auf Zupfgeige und Laute dazu begleiten. Durch die Kinder kommen diese Lieder dann ins Haus – hörte ich einige doch schon von Maurern bei der Arbeit! Wenn so von oben und von unten das gute Werk in Angriff genommen wird, dann kann wohl einmal die niedrigste Gattung der Musik, die jetzt gerade in besonders üppiger Blüte stehende Operettenmelodie, die den Geschmack geradezu vergiftet, aus ihrer Herrschaft verdrängt werden. Und auch die Kunstmusik wird wieder auf das Einfache gelenkt werden – alle große Kunst ist einfach! – das sie dann mit ihren großen Mitteln und mit dem feinstgeschliffenen Handwerkszeug gestalten mag.

Musikwissenschaft.

Große Fortschritte hat ferner die Musikwissenschaft gemacht; es ist jetzt wohl zum allgemeinen Bewußtsein gekommen, daß sie ebenso wichtig ist, wie die Wissenschaft der bildenden Kunst und der Literatur. Lange waren Friedrich Chrysander und Philipp Spitta die einzigen ernsthaften Musikwissenschaftler. Chrysander hatte fast ganz aus eigner Kraft die Gesamtausgabe der Werke Händels hergestellt und eine Händelbiographie begonnen, Spitta hatte eine Lebensbeschreibung Bachs vollendet und den Bau so fest gefügt, daß seine Grundlagen noch jetzt unerschüttert stehen, und er hatte auch den größten deutschen Meister des 17. Jahrhunderts, Heinrich Schütz, wieder zum Leben erweckt. Die von Chrysander gegründeten „Jahrbücher für musikalische Wissenschaft“ waren nur bis zum zweiten Bande vorgeschritten, und die von ihm mit Spitta und Guido Adler herausgegebene „Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft“ hörte mit dem zehnten Jahrgange bei Spittas Tode auf zu bestehen. Jetzt stehen als die Häupter der Musikwissenschaft Hermann Kretzschmar in Berlin und Hugo Riemann in Leipzig da, um die sich viele jüngere Gelehrte gruppieren, und es ist in den letzten 25 Jahren mehr und mit besseren Resultaten gearbeitet worden, als in der ganzen Zeit vorher seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Was hat man nicht alles ans Licht gebracht! Die Neumenschrift hat ihre Schrecken verloren, sie ist durch Vergleichung lesbar geworden, die Lieder der Troubadours sind entziffert, das heißt richtig rhythmisiert, eine bisher ganz unbekannte Musikepoche, die des begleiteten Vokalstils im 14. Jahrhundert in Italien, ist durch Johannes Wolf und Riemann aufgedeckt worden, das so dunkle 17. Jahrhundert beginnt verständlich zu uns zu sprechen, und vieles andere ist erklärt und durchforscht. Die 1899 begründete und seit 10 Jahren unter H. Kretzschmars Vorsitz stehende „Internationale

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1620. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/491&oldid=- (Version vom 20.8.2021)