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die Vermehrung der Arten in sehr einfacher Weise – ohne jede Spur eines irdischen Dualismus.

Man kann sich leicht denken, daß diese Bequemlichkeit der Natur auch erhebliche Unbequemlichkeiten im Leben derer, die sich so einfach fortpflanzen, zur Folge hat – denn die Alten sterben nicht so schnell aus auf der Venus, so daß sich die Zahl der Venushautbewohner unablässig vergrößert. Diese Vermehrung behindert die Bewegungsfreiheit der Generationen. Und – wer sähe es gerne, wenn er samt seinen Lebensgenossen in seiner Bewegungsfreiheit behindert wird? Dabei geht ja alle Heiterkeit und Grazie ohne Anmut zum Teufel.

Nun kam noch hinzu, daß auf der heißen Venusseite zwei ganz verschiedene Arten von Lebewesen existieren; die einen waren groß, dick und faul und hatten eine Art Schildkrötenfell oben und unten, die anderen Lebewesen besaßen zwanzig Arme mit langen feinen Händen, die sie, faustartig gekrümmt, leicht als Füße gebrauchen konnten, so daß diesen Zwanzigarmigen eine geradezu unheimliche Lebendigkeit innewohnte.

Daß den bequemen, faul und ruhig daliegenden Schildkrötenfellbedeckten die Lebendigkeit und Ruhelosigkeit der Arm- und Handreichen sehr peinlich – ja zuweilen unerträglich – vorkam, das braucht wohl nicht gesagt zu werden.

Knax gehörte nun mit seinen Zuhörern zu den beweglichen Venushautbewohnern.

Knax dachte täglich in reichlichem Maße über die verdammte Fruchtbarkeit der heißen Venuskugelseite nach; er war schon vor vielen Jahren auf die Idee gekommen, daß eine große Anzahl von Türmen und freischwebenden Brückenarrangements wohl den[WS 1] Platzmangel auf der Venushaut steuern könnte. Und man hatte danach auch Türme und Brücken in Tälern und Höhen massenhaft erbaut.

Indessen – die verdammte Fruchtbarkeit der Venusbewohner war eine derartig ergiebige gewesen, daß alle diese Türme und Brücken nicht mehr dem allgemeinen Verkehrsbedürfnisse der Beweglichen genügten; der Beweglichen gab es eben zu viele – und die Schildkrötenartigen bedeckten fast überall den Sternboden und litten nicht, daß die Zwanzigfüßigen auf ihren Rücken oder in ihrer Nähe herumliefen, da ihnen die Ruhe das wertvollste Lebensprinzip zu sein schien.

Knax, der Weise, sagte traurig:

„Weiß der liebe Himmel – wir haben in unserer sonnigen Heimat nicht mal mehr zum Spazierengehen Platz. Wo sollen wir denn bleiben? Wir können doch nicht immerzu auf unseren Brücken und Türmen sitzen und malen. Wir müssen doch mal spazieren gehen; wir sind doch nicht so konstruiert, daß wir auf die Spaziergänge ganz und gar verzichten können.“

Knaxens Zuhörer sagten dazu:

„Er hat recht, der Knax!“

Aber sie wußten nicht, wie dem Freiheitsmangel begegnet werden könnte; natürlich kam keines von diesen höher entwickelten Lebewesen auf die brutale Idee, die Nachkommen, die überflüssig erschienen, einfach abzugurgeln; alles Töten war den Venushautbewohnern unbekannt.

Die Geschichte wäre ja zweifellos zu einem Kampfe aller gegen alle geworden, wenn sich die ruhigen und die beweglichen Hautbewohner in einer Weise ernährt hätten, die sich mit der, die man auf dem Stern Erde sattsam kennen gelernt hat, vergleichen ließe. Aber ein derartiger Vergleich erscheint hier ganz unstatthaft, da sich die Hautbewohner gar nicht von dem ernährten, was auf der Haut der Venus zu finden ist; die Venusbewohner – sowohl die ruhigen wie die beweglichen – nahmen nur einmal im

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: dem
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Paul Scheerbart: Die neue Oberwelt. Die Aktion, Berlin 1911, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Aktion_1911_54.png&oldid=- (Version vom 17.1.2018)