muß, soll der Geist der Gleichberechtigung und der gegenseitigen Hilfe, ohne den es keinen Sozialismus gibt, jemals lebendig werden.
Der kommunistische Anarchismus wendet seinen Kampf also zugleich gegen die wirtschaftliche Unterdrückung von Menschen durch Menschen wie gegen die Moral, die die Unterscheidung zwischen den Menschen für zulässig hält. Der Kapitalismus könnte nicht sein, könnte niemals geworden sein, wenn nicht dem Verzicht auf die Verfügung über die eigene Arbeitskraft, die das Wesen der wirtschaftlichen Verknechtung ist, der Verzicht auf die Selbstverantwortlichkeit der Menschen vorausgegangen wäre. Alle geschichtlichen Erklärungen, nach denen die kommunistisch wirtschaftenden Ackerbauer der Frühzeit zur Verteidigung des Bodens gegen Ueberfälle bewaffnete Männer aussonderten, welche sich allmählich kraft ihrer Ueberlegenheit durch den Waffengebrauch zu Herren des Landes machten und als bevorrechtigte Klasse den Arbeitsertrag ihrer Auftraggeber in persönlichen Reichtum verwandelten, sich zu Eigentümern des Grundes und Bodens aufwarfen und die Arbeitenden dadurch ihren Machtansprüchen hörig machten, – alle Erforschungen der Entstehung und Entwicklung des Kapitalismus und der Klassenkämpfe sollen als wahr und richtig anerkannt werden. Sie beweisen nichts für das marxistische Dogma, daß das ökonomische Sein allein oder doch ausschließlich bestimmend das Handeln, Denken und Fühlen der Menschen beeinflusse. Der Ueberlassung des Waffenwerks an eine erwählte Schar muß vorausgegangen sein das Bewußtsein der Schwäche, der Verteidigung ebenso wie der Arbeit in der natürlichen Ursprünglichkeit völliger Gemeinschaft nicht mehr gewachsen zu sein. Diese Minderung des Zutrauens in die gesellschaftliche Kraft der Verbundenheit ist aber ein seelisch-ethischer Vorgang, aus dem sich die Folgen auf die ökonomischen Verhältnisse erst ergeben. Das Bewußtsein bestimmt hier die Gestaltung des Seins. Kein Versuch, dem Schwinden des Selbstvertrauens wiederum ökonomische Ursachen zugrunde zu legen, käme gegen den Einwand auf, daß jede Gestaltung der Arbeitsleistung und Beziehungsregelung menschliche Veranstaltung ist, dem Tun aber notwendig das Denken, dem Denken die unbewußte Nervenbewegung vorausgeht, die das seelische Empfinden bezeichnet. Gemeinsame Lebensführung beruht auf gemeinsamer Verantwortung. Die Trennung der Gemeinsamkeit im gesellschaftlichen Wirken kann nur auf die Lockerung der gemeinschaftlichen Verantwortung zurückgehen. Ueberträgt die Gesamtheit einen der Dienste, deren Verrichtung den Einsatz aller Kräfte verlangt, einem Teil, so schaltet sie zugleich diesen Teil aus den übrigen Verrichtungen des gesellschaftlichen Dienstes aus, entläßt ihn somit aus der Verantwortung für die Sache der übrigen, wie sie sich selbst der Verantwortung für den übertragenen Dienst begibt. Innerhalb der wirtschaftlichen Arbeit ist selbstverständlich die Teilung der Dienste geboten, ebenso wie die Abwehr von Angriffen auf den Boden und die Arbeit den Kämpfern verschiedene Aufgaben zuweist. Der Grundsatz der Gemeinschaft wird dadurch nicht verletzt. Dem einen Volksteil aber die Arbeit überlassen, dem andern den Kampf aufhalsen heißt die Lebensführung der Gesellschaft auseinanderreißen, heißt die gemeinverbindliche Verantwortlichkeit preisgeben, heißt folglich Ungleichheit schaffen, die notwendig Herrschaft nach sich ziehen muß. Gemeinsame Verantwortlichkeit aller für alles, das ist der eigentliche Sinn des Kommunismus. Gemeinsame Verantwortlichkeit aller für alles bedeutet aber genau dasselbe wie Selbstverantwortlichkeit eines Jeden für das Ganze, und das ist der eigentliche Sinn des Anarchismus.
Damit ist die Frage der Wechselbeziehung von Gesellschaft und Persönlichkeit aufgeworfen. Der Marxismus will die soziale Gleichheit herstellen, indem er die Lebensformen des einzelnen Menschen in das Streckbett der für ökonomisch auswägbar gehaltenen Nutzzwecke der Gesamtheit zwingt. Der Individualismus will umgekehrt den ungekürzten Lebensraum des Individuums zum Maß der gesellschaftlichen Daseinsform machen, ohne Rücksicht auf Gleichheit und Gesamtnutzen. Beide Auffassungen nehmen also einen Gegensatz zwischen Gesellschaft und Mensch an und kommen nur bei der Abschätzung der Frage, wessen Rechtsanspruch ans Leben wichtiger sei, zu verschiedenen Ergebnissen. Der kommunistische Anarchismus lehnt die Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Persönlichkeit ab. Er betrachtet die Gesellschaft als Summe von Einzelmenschen und die Persönlichkeit als unlösliches Glied der Gesellschaft. Eine soziale Gleichheit, bei der der individuelle Betätigungsdrang des seines Eigenwertes bewußten Menschen beeinträchtigt ist, die sich mit der Beseitigung des Mehr oder Weniger in der Verfügung über die irdischen Güter begnügt, schafft allein nicht die gesellschaftliche Gleichheit, die die Forderung der Gerechtigkeit erfüllt, die Gleichheit, die auf Gegenseitigkeit in allen, nicht bloß den materiellen Dingen, und die auf dem Gefühl der verbundenen Verantwortung aller und der Selbstverantwortlichkeit jedes Einzelnen beruht. Die Herstellung einer Gleichheit, die in Wahrheit die
Erich Mühsam: Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Fanal-Verlag Erich Mühsam, Berlin 1933, Seite 260. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Befreiung_der_Gesellschaft_vom_Staat.djvu/10&oldid=- (Version vom 31.7.2018)