ließe keinen Angriff auf die menschliche Selbstbestimmung zu. Das Bewußtsein, daß nur Gleichheit und Gegenseitigkeit wirkliches gesellschaftliches Recht ermöglicht, schlösse jede Machtbetätigung von Menschen über Menschen aus. Dem unverbildeten Gemüt des naturverbundenen Menschen konnte der Sinn für Obrigkeitsvorrecht und Untertanenverpflichtung daher nicht anders beigebracht werden als durch die Vorstellung, außerweltliche, himmlische Wesen seien die Schöpfer und Lenker aller Dinge, ihnen, nicht sich selbst oder seinesgleichen sei der Mensch in allem Tun und Lassen verantwortlich. Wem der Glaube an göttliche Allmacht begreiflich gemacht war, der konnte für den Glauben an menschliche Macht gewonnen werden. Dazu bedurfte es nur der Einflüsterung, die Götter übertrügen den Wachdienst über das Verhalten der Menschen mit höheren Weihen versehenen irdischen Stellvertretern. So gelang es die Autorität der Priester sicherzustellen und damit jeder weiteren Autorität Zutritt zum gesellschaftlichen Bewußtsein zu schaffen. In guter Kenntnis der Menschenseele wußten die Priester, daß die natürliche Abwehr jeder Autorität im Selbstgefühl begründet ist, das auf Selbstbestimmung und gleichberechtigte Uebereinkunft hinweist. Selbstgefühl und Stolz kann nur durch Erregung von Furcht gebrochen werden. Darum wurde mit dem Glauben an die Götter zugleich die Angst vor ihnen den Gemütern eingeflößt. Die Furcht, sonst allgemein als Kläglichkeit betrachtet, wurde den unsichtbaren Göttern gegenüber zur tugendhaften Pflicht erhoben. Wer aber einmal Gottesfurcht gelernt hat, der wird auch Priesterfurcht, Königsfurcht, Gesetzesfurcht und Eigentumsfurcht lernen und sich nach Belieben regieren lassen.
Außer dem Selbstbewußtsein mußte auch das angeborene Rechtsgefühl, das sozialen Ursprungs ist, gebrochen werden, um auf Autorität Macht begründen zu können. Die Verletzung des sozialen Rechtsempfindens geschieht durch Verweigerung der Gleichberechtigung oder Aufhebung der Gegenseitigkeit im gesellschaftlichen Leben. Da jedoch die Autorität Ungleichheit und Abhängigkeit zur Lebensbedingung hat, mußte der Begriff des Unrechts von seiner selbstverständlichen Bedeutung abgebogen werden. Die Priester ersannen dazu die von der Beziehung zur Gesellschaft losgelöste und nur in Beziehung zur Gottheit festgelegte Sünde. Unrecht ist die Verfehlung gegen die menschliche Gemeinschaft, Sünde die Verfehlung gegen die göttliche, mithin gegen die priesterliche Autorität. Während jedoch der Bestand der sozialen Gemeinschaft durch alles die Gegenseitigkeit störende Unrecht bedroht wird, ist das Begehen sündiger Handlungen Lebensbedingung für die Autorität derer, die über Menschenseelen herrschen wollen. Sie brauchen die Schuld ihrer Gläubigen, weil nur die zerknirschte Seele sich himmlischen Machtsprüchen unterwirft. Alle Priesterschaft lebt vom schlechten Gewissen der Menschen, aber nur die Vorstellung von Strafen nach dem Tode und von Beaufsichtigung auch der geheimsten Gedanken und Regungen hält die Furcht dauernd rege, selbst bei gerechtestem Wandel im Verkehr mit dem Mitmenschen von den göttlichen Geboten abzuirren. Liegt es doch in der Natur jeder Autorität, alle moralischen Verpflichtungen, die das soziale Gewissen fordert, aufzuheben – anders könnte ja keine Obrigkeit ihre eigene Verletzung der Gleichheitsidee sittlich rechtfertigen – und die volle Verantwortung in allen Dingen unter außerhalb der persönlichen Würdigung stehende feste Gebote zu stellen.
Das soziale Bewußtsein unterscheidet rechtliche und widerrechtliche Handlungen; ihr Prüfstein ist die Achtung oder Mißachtung der Gleichberechtigung. Die Autorität dagegen unterscheidet erlaubte und verbotene Handlungen; ein den Beherrschten zugänglicher Prüfstein für ihre moralische Verschiedenheit ist nicht vorhanden. Die Gottheit, die Priesterschaft, in der Folge der Herzog, der Fürst, der Adel, die Führung befiehlt, verbietet, macht schuldig, straft, besteuert, nutzt aus. Das Gesetz tritt an die Stelle der Selbstbestimmung, der Glaube an die Stelle des Urteils, der Gehorsam an die Stelle der Verantwortung, die Demut an die Stelle des Mutes, die Jenseitsfurcht an die Stelle des Diesseitskampfes. Die soziale Gemeinschaft dankt ab zugunsten der unmündigen Bereitschaft, Schuld zu häufen, zu bereuen und abzubüßen, Macht anzubeten und Macht anzustreben, die Persönlichkeit mitsamt der Gesellschaft zu töten und das irdische Leben an ein überirdisches Himmelreich zu verraten. Wer aber im Tode in den Himmel will, der will im Leben an die Macht, und wer im Leben die Macht hat, der tröstet seine Opfer mit dem Himmelreich nach dem Tode.
Solange die Völker sich unbefangen der Natur verschwistert fühlten, in gesellschaftlicher Gegenseitigkeit schufen und genossen, gab es bei ihnen noch keine zentrale Gottheit mit unbeschränkter Autorität. Das kindliche Verehrungsbedürfnis gab den Gestirnen und den Naturkräften Götternamen, aber die heidnischen Religionen verteilten die segenvollen Eigenschaften, die sie den Sinnbildern und Geistern beimaßen,
Erich Mühsam: Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Fanal-Verlag Erich Mühsam, Berlin 1933, Seite 268. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Befreiung_der_Gesellschaft_vom_Staat.djvu/18&oldid=- (Version vom 31.7.2018)