„Nichts von Sultanen, Wesiren, Statthaltern, Kadis, Schatzmeistern, Zollpächtern, Fakiren und Bonzen zu wissen, ist ein Glück, wovon der größte Teil der Menschheit keine Vorstellung hat.“ C. M. Wieland
(Geschichte des weisen Danischmend.) |
I. Das Weltbild des Anarchismus
Anarchismus ist die Lehre von der Freiheit als Grundlage der menschlichen Gesellschaft. Anarchie, zu deutsch: ohne Herrschaft, ohne Obrigkeit, ohne Staat, bezeichnet somit den von den Anarchisten erstrebten Zustand der gesellschaftlichen Ordnung, nämlich die Freiheit jedes einzelnen durch die allgemeine Freiheit. In dieser Zielsetzung, in nichts anderm, besteht die Verbundenheit aller Anarchisten untereinander, besteht die grundsätzliche Unterscheidung des Anarchismus von allen andern Gesellschaftslehren und Menschheitsbekenntnissen.
Wer die Freiheit der Persönlichkeit zur Forderung aller Menschengemeinschaft erhebt, und wer umgekehrt die Freiheit der Gesellschaft gleichsetzt mit der Freiheit aller in ihr zur Gemeinschaft verbundenen Menschen, hat das Recht, sich Anarchist zu nennen. Wer dagegen glaubt, die Menschen um der gesellschaftlichen Ordnung willen oder die Gesellschaft um der vermeintlichen Freiheit der Menschen willen unter von außen wirkenden Zwang stellen zu dürfen, hat keinen Anspruch, als Anarchist anerkannt zu werden. Die verschiedenen Ansichten über die Wege, welche die Menschen einzuschlagen haben, um zur Freiheit zu gelangen, über die Mittel, mit denen die der Freiheit widerstrebenden Kräfte zu bekämpfen und zu besiegen sind, über die endlichen Formen und Einrichtungen der freiheitlichen Gesellschaft bilden Meinungsgegensätze zwischen anarchistischen Richtungen innerhalb der gemeinsamen Weltanschauung. Ihre Vergleichung und Abwertung ist nicht Aufgabe dieser Schrift, die sich darauf beschränken will, die Grundsätze des kommunistischen Anarchismus, wie sie der Verfasser und die ihm in Ueberzeugung und Kampf am nächsten stehenden Anarchisten für richtig halten, darzulegen und der Werbung zu empfehlen.
Die wissenschaftliche Ausdeutung des Begriffs Kommunismus kann hier ebenfalls unterbleiben, zumal es den kommunistischen Anarchisten nicht so sehr um eine dogmatische Festlegung der Austausch- und Verbrauchsregelung der von Staat und Kapitalismus befreiten Gesellschaft zu tun ist, als um die Schaffung freiheitlicher Verhältnisse im Sozialismus an Stelle des von den Staatssozialisten, besonders von den Marxisten, angestrebten autoritären, obrigkeitlich geleiteten und zentralistisch verwalteten Sozialismus. Wir verstehen unter Kommunismus die auf Gütergemeinschaft beruhende Gesellschaftsbeziehung, die jedem nach seinen Fähigkeiten zu arbeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen zu verbrauchen erlaubt. In dieser Wirtschaftsform glauben wir die sozialistische Grundforderung der Gleichberechtigung aller Glieder der Gesellschaft sicherer verbürgt als im Kollektivismus oder im Mutualismus, die den Anteil am gemeinsamen Erzeugnis in ein Berechnungsverhältnis zur geleisteten Arbeit setzen wollen. Der freiheitliche Sozialismus läßt diesen verschiedenen Möglichkeiten, die alle ihre Verteidiger unter Anarchisten gefunden haben, genügend Spielraum. Auch darüber können erst die Versuche und Erfahrungen der Zukunft entscheiden, in welchem Umfange etwa die Freiheit der Bedürfnisbefriedigung das Sondereigentum an persönlichen Gebrauchsgütern erfordert. Entschiedene Abgrenzung aber ist geboten gegenüber den nur individualistischen Anarchisten, die in der egoistischen Steigerung und Durchsetzung der Persönlichkeit allein das Mittel zur Verneinung des Staats und der Autorität erblicken und selbst den Sozialismus wie jede allgemeine Gesellschaftsorganisation schon als Unterdrückung des auf sich selbst ruhenden Ich zurückweisen.
Erich Mühsam: Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Fanal-Verlag Erich Mühsam, Berlin 1933, Seite 255. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Befreiung_der_Gesellschaft_vom_Staat.djvu/5&oldid=- (Version vom 31.7.2018)