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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Pflaster. Hatte keine Ahnung davon, daß Du hier wärest; ein Geschäft, das ich mit einem in der Nähe wohnenden krautschüssigen Sohn Albions habe, führte mich an diesem Hause vorüber, und ein Blick auf Dein blankes Schild sagte mir, daß Du hier wohntest. – Nun sag’, wie geht es Dir?“

Rudolf erzählte dem Jugendfreunde Alles.

„Armer, armer Junge!“ rief Adolf, als der Erzähler schloß, „Du siehst wahrhaftig aus wie das Hungerleiden von Irland. Das Versetzen oder Bücherverklopfen steck’ einmal vor der Hand auf mit Baarem kann ich Dir im Augenblicke zwar auch nicht helfen, aber glücklicherweise hab’ ich unbeschränkten Kredit bei der Mutter Brummeisen an der Schifferallee. Dort kannst Du Dich mit mir atzen. Komm!“

Rudolf, schon zum Ausgehen fertig; folgte. Sein fadenscheiniger Anzug erregte Adolf’s Bedauern von Neuem. „Ein so grundgescheidter Junge wie Du,“ sagte er, „sollte ganz anders floriren. Sag’ einmal, hast Du Dein Glück nicht bei denen Weiblein versucht? Hast nicht beherzigt, was Meister Mephisto Deiner Gilde empfiehlt? „Besonders lernt die Weiber führen!“ Hast nicht gelernt „das Pülslein wohl zu drücken“ et cetera, et cetera?“

„Mir ist das Weib zu ehrwürdig für solch loses Spiel!“

„Ei! volenti non fit injuria – aber nun sage mir Einer, die Beschäftigung mit den naturalibus mache hartfühlig! Weiter als Du Naturalist kann ja eine jungromantische Nachdichterseele, die im gottseligen Abscheu vor Allem, was Fleisch heißt, allerzartest erstirbt, das Zartgefühl nicht treiben wie Du. A propos – hast Du noch kein Liebchen, keine Braut?“

Rudolf verneinte.

„Auch nicht gehabt?“

Rudolf verneinte wieder und fügte hinzu: „Bis jetzt hab’ ich meine Liebe ganz meiner Wissenschaft gewidmet. Und in meiner Lage ist es auch ein Glück; daß ich kein anderes Wesen an mein Geschick gefesselt.“

„Wer weiß, ob das ein Glück ist,“ versetzte Adolf; „vielleicht hätte Dir so ein liebes, blondes oder braunes Lockenköpfchen längst auf die rechten Sprünge geholfen. Du bist – nimm mir’s nicht übel – bei Deinem vielen Studiren ohne Wein und Mädchen doch ein wenig geworden, was man ein gelehrtes Rhinozeros nennt. Und darin liegt zum Theil Dein Unglück. Die Liebe würde Dich emanzipirt, ein feines Liebchen Dich aus der Pelle der Pedanterie herausgeschält und außerdem mit manchem Stück Societätsphilosophie ausgerüstet haben. Ein rechtes Weib geht und steht viel sicherer in der Gesellschaft als Unsereiner – ich wollt’, ich könnte Dich heute noch verliebt machen.“

„Damit mein Elend vollends den Boden verlöre“ – sagte Rudolf – „nein, Freund, ich habe schon meinen Entschluß gefaßt, in Kurzem geht ein Wallfischfänger nach den arktischen Gewässern ab, da will ich als Schiffsarzt mit.“

Adolf blieb stehen und sah den Freund mit großen Augen an. Dann sagte er: „Komm geschwind; daß Du eine Hammelkeule in den Magen bekommst; denn nur der Hunger konnte Dir einen solchen Seehundsgedanken eingeben!“

Damit zog er den Muthlosen rascher mit sich fort. Bald erreichten sie den Hafendamm; von welchem eine schattige Allee zu einem freundlichen Häuschen führte, das den Hungernden würzigen Speidenduft entgegen sandte.

Freundlicher, als ihr Name klang, war der Empfang, welchen die Eigenthümerin dieses meist von Schiffern besuchten Kaffee- und Speisehaufes den beiden jungen Männern angedeihen ließ. Sie brachte sie nicht im Schwarm der gewöhnlichen Gäste unter, sondern in ihrem Privatstübchen, wo sie ungestört einander ihre Herzen erschließen konnten. Nachdem Adolf seinen „Römerzug“ erzählt hatte, berichtete er, daß er auch gänzlich „abgebrannt“ in der Heimath angekommen sei, aber bei der Mutter Brummeisen, die er schon früher gekannt, gastliche Aufnahme gefunden habe. Auch hoffe er nächstens in Bezug auf Geldmittel wieder flott zu werden, da ein Bild, das er in Rom gemalt, an einem Engländer, der sich zur Zeit hier aufhalte, einen Liebhaber gefunden, von dem er jeden Tag einer bestimmten Erklärung entgegensehe.

„Kauft das Beefsteak,“ schloß er, „so ist uns Beiden geholfen; die Mutter Brummeisen wird bezahlt, und Du erhältst so viel, daß Du einen neuen äußern Menschen anlegen und vor allen Dingen Deine Instrumente wieder einlösen kannst. Denn wenn Dir der Himmel jetzt eine große Operation zuwiese, durch die Du Ruf und Glück begründen könntest, Du müßtest die Gelegenheit ungenützt vorübergehen lassen.“

„Freilich“ – sagte Rudolf – „aber was wollte ich thun, wenn ich nicht an die Luft gesetzt sein wollte?“

„Zum Henker! da fällt mir ein, daß Du eine reiche Tante in der Stadt hast,“ entgegnete Adolf, „warum hast Du Dich nicht an die gewendet?“

„Hast Du vergessen, daß sie vom Geizteufel besessen und übrigens mit mir gänzlich zerfallen ist, seit ich umgesattelt habe? Ihr Haus ist mir verboten.“

„Und ist doch Dein Vaterhaus – Deinem Vater in der Bedrängniß abgeluxt um ein Lumpengeld – von Rechtswegen ist sie Deine Schuldnerin, die alte Hexe!“

Jetzt trat die Wirthin ein und sagte zu dem Maler: „Sputen Sie sich, Herr Walter, der alte Graubart ist heute recht zeitig da mit seinem Engel – ich habe im Gartenstübchen schon einen Tisch zurecht gestellt und Ihre Mappe liegt auch da. Aber lassen Sie sich ja nichts merken, daß Sie das Kind abkonterfeien.“

„Seien Sie unbesorgt, Mutter,“ erwiederte Adolf, sich erhebend, „durch mich sollen Sie nicht um Ihren Kunden kommen. Da Du auch satt bist, Rudolf, so komm mit; Du sollst etwas sehen, was – doch ich will die Wirkung auf Dein Fischblut abwarten.“ Und er führte ihn in ein anstoßendes Gemach; das mit einem freundlichen Garten in Verbindung stand, der unmittelbar an den Hafen grenzte. Ehe sie sich den hohen Fenstern näherten, sagte Adolf: „Nun thu’ mir den Gefallen, setz’ Dich so, daß Du meine Arbeit verdeckst, Steck’ Dir eine Cigarre an und schau gelegentlich, aber nicht unverwandt, nach dem Paare hinüber, das uns schräg gegenüber unter den Akazien beim Kaffee sitzen wird.“

Als Rudolf dieser Weisung zufolge zwischen Tisch und Fenster Platz genommen und seine Cigarre angesteckt hatte, ließ er seine Blicke hinausschweifen – aber er hätte fast vergessen der Weisung weiter zu folgen, denn er fühlte seine Augen von der Gestalt, an der sein Freund alsbald zu zeichnen begann, unwiderstehlich gefesselt. An der Seite eines Greises in silberweißem Haupt- und Barthaar saß da ein Frauenbild von so zarter Lieblichkeit und überquellender Lebensfülle, daß ihm war, als blühete und glühete es ihm unmittelbar in die innerste Seele hinein. Adolf mußte ihm einen Stich mit dem spitzen Bleistift geben; daß er sich der ertheilten Warnung erinnerte.

„Um Gott – Adolf“ – stammelte Rudolf erröthend „wer ist das himmlische Wesen?“

„Geduld, Freund – jetzt laß mich zeichnen und genieße vorsichtig den reizenden Anblick; hernach sag’ ich Dir Alles.“

Der Kleidung nach gehörten die beiden Kaffeegäste dem wohlhabenden Bürgerstande an, wiewohl das eiserne Kreuz auf der Brust und das martialische Gepräge in Miene und Haltung des Greises den alten Soldaten verrieth. Mit einer außerordentlichen Zärtlichkeit schien er an seiner jugendlichen Begleiterin zu hängen, denn er wendete fast kein Auge von ihr; schenkte ihr den Kaffee ein, versüßte ihn, legte ihr Kuchen vor und war sorglichst bemüht, lästige Zweiflügler und selbst die heißen Sonnenstrahlen von ihrem Gesicht abzuhalten. Mit immer größerer Erregung mußte Rudolf das anmuthige Wesen betrachten; immer und immer wieder stahl sich sein Blick zu ihr hinüber und kehrte trunken zu der entstehenden Skizze des Freundes zurück. Auf einmal trübte sich seine entzückte Miene, und er rief erblassend: „O Gott! o Gott!“

Eben war Adolf mit seiner Zeichnung fertig und legte sie Jenem mit der Frage vor: „Ist sie getroffen?“

„Vollkommen – kein Zug verfehlt“ – bezeugte Rudolf – „aber ich bin erschrocken, daß mir das Blut in den Adern starrt – das herrliche Geschöpf ist ja blind!“

„Leider!“ bestätigte Adolf; „es ist, als habe es die Natur gereut, ein allzu vollkommenes Werk geschaffen zu haben, und sie habe durch das Erblindenlassen ihr Versehen wieder gut machen wollen. Aber Du hast es sogleich erkannt, daß sie blind ist, obschon ihre tiefblauen Augen, aus dieser Entfernung gesehen, völlig gesund zu sein scheinen?“

„Ich müßte nicht die Augenheilkunde zu meinem Lieblingsstudium gemacht haben, wenn ich das nicht erkennen wollte.“ sagte Rudolf. „Ich wollte eine Staaroperation im Finstern vornehmen, so genau habe ich das menschliche Auge studirt. Doch nun gieb mir endlich Auskunft über das unsäglich holde und doch so unglückliche Geschöpf.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 70. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_070.jpg&oldid=- (Version vom 6.2.2020)