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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

der Mutter auf das innig mit dem mütterlichen Körper verbundene Kind guten oder nachtheiligen Einfluß ausüben muß, läßt sich wohl denken, und es ist sonach Pflicht einer jeden Mutter, wenn sie einem gesunden Kinde das Leben schenken will, zunächst ihr eigenes Wohl gehörig im Auge zu haben. – Wenn wir von geistigem Wohl- und Unwohlsein sprechen, so meinen wir damit das naturgemäße und naturwidrige Anregen und Vorsichgehen der durch das Gehirn, die Sinne und die Nerven vermittelten Thätigkeiten, vorzugsweise der Gemüthsthätigkeit. Wie ein einziger Sturm nicht selten die Hoffnungen eines ganzen Sommers von den Bäumen wirft, so zerstört oft blitzesschnell ein einziger Ausbruch irgend einer heftigen Leidenschaft die lang gepflogenen Hoffnungen der jungen Gattin. Und wo gar im Gemüthe derselben ein Sturm von Leidenschaften den andern treibt, wo anstatt eines sanftmüthigen und ruhigen Betragens Leidenschaftlichkeit und Unart das Herz bewegt, da wird die Gesundheit des Kindes und der Mutter für immer oder doch für lange Zeit untergraben. Alle Leidenschaften (Zorn, Furcht, Traurigkeit, Haß, Neid, Eifersucht) haben einen unermeßlich schädlichen Einfluß auf den kindlichen und mütterlichen Körper, wie überhaupt Alles, was sogen. Wallungen (stärkeres Herzklopfen) verursacht. Der gesteigerten Erregbarkeit des Nervensystems wegen verlangt dieses mehr Schonung als sonst, und deshalb ist auch vor dem Anblicke abscheuerregender Gegenstände, vor Schreck, starken Sinneseindrücken und Reizmitteln, ebenso aber auch vor Empfindelei und Schwärmerei zu warnen. Ruhe des Geistes und Gemüthes, Heiterkeit und Zufriedenheit, das sind die jeder in Hoffnung lebenden Frau nicht dringend genug anzurathenden Schutzmittel vor späterem Gram.

Das körperliche Wohl der Mutter wird wesentlich unterstützt: durch tägliche, aber mäßige Leibesbewegung im Freien und im Hause, sowie durch passende Ruhe (Schlaf). Man glaube ja nicht etwa, daß fortwährende behagliche Ruhe und Nichtsthun dem Kinde gute Früchte bringe. Es ist weit besser, wenn eine Frau leichtere häusliche Geschäfte besorgt und öfters ausgeht, als wenn sie ruhig zu Hause auf dem Stuhle sitzt oder auf dem Sopha liegt. Auch das zu lange und häufige Schlafen taugt nichts. – Daß Bäder jedem Menschen zum Gesundbleiben nöthig sind, wird täglich mehr und mehr anerkannt; ganz vorzügliche Dienste leisten sie aber den in der Hoffnung lebenden Frauen. Alle 8 bis 14 Tage sollten diese ein mäßig warmes Bad (von + 24–28° R.) nehmen. Nur Frauen, die schon an kaltes Waschen und Baden gewöhnt sind, können dasselbe, aber stets mit großer Vorsicht und Vermeidung von Erkältung fortsetzen; keinenfalls jedoch darf damit in der Zeit der Schwangerschaft begonnen werden. Ueberhaupt haben sich Mütter vor Kälte und Erkältung in dieser Zeit sehr zu schützen, weshalb die Kleidung, zumal der Füße, stets gehörig erwärmend sein muß. Ebenso ist aber auch das Gegentheil, starke Hitze und Erhitzung zu vermeiden.

Was die Beschwerden betrifft, welche die Frauen gewöhnlich zur Zeit ihrer Hoffnungen heimsuchen, so müssen dieselben, wenn sie nicht ausarten, ruhig ertragen werden. Dagegen ist baldigst ein vernünftiger Arzt herbeizurufen, wenn sie einen sehr hohen Grad erreichten, oder wenn heftige und anhaltende Schmerzen im Leibe, Blutungen, Durchfälle, Urin- und Stuhlverhaltungen, Fieberanfälle u. dgl. eintreten. Niemals ist ein homöopathischer Arzt zu rufen, da ein solcher mit seinen Nichtsen durchaus nicht dahin paßt, wo es gilt, zu handeln. Man höre und staune! Gegen die Blutaderanschwellungen (sogen. Weh- oder Krampfadern) an den Beinen Schwangerer, welche auf ganz mechanische Weise, nämlich durch Druck des Kindes auf die Hauptblutader des Beines entstehen, und auch, wie wohl jeder Verständige einsehen muß, nur auf mechanische Weise (durch Binden, Schnürstrümpfe) behandelt werden können, empfiehlt die Homöopathie ganz im Ernste Lycopodium, Passatilla oder Sulphur innerlich zu nehmen und zwar dann, wenn die Wehadern eine übermäßige Ausdehnung erreichen, allgemeine Fußgeschwulst erregen und zu platzen drohen. Platina soll die verkehrten Geschmacksrichtungen, die eigenthümlichen Gelüste und Verlangen Schwangerer mindern und heben; es soll dieses Mittel aber auch, wie die Sepia, gegen die Anlage zum Abortus ausgezeichnete Dienste leisten. Ist das nicht ein sehr trauriges Zeichen für unsere Zeit, daß man solchen kolossalen Unsinn, wie diese homöopathischen Mittel-Anpreisungen, zu veröffentlichen wagen kann?

Bock.




Das Paradies der Wahnsinnigen.

Mitten auf den traurigen Moor-Ebenen, die ihre unfruchtbaren Wüsten über einen großen Theil der nördlichen Provinzen Belgiens und die Südgrenzen Hollands ausdehnen – bekannt unter dem Namen Campine – breitet sich eine freundliche Oase der eigenthümlichsten Industrie und Cultur aus. Deren Mittelpunkt ist das heitere, reich umgrünte und umblühte Stadtdorf Gheel, Hauptstadt der belgischen Campine. Der freundliche Ort ist breit umgürtet von Obst-, Küchen- und Blumengärten, im Winde rauschenden und wogenden Getreidefeldern und einfachen, aber behäbigen Gehöften, Hütten und Bauerhäusern. Diese künstliche Oase in einer weiten Oede nimmt uns auf den ersten Blick für die Bevölkerung ein, die solch’ blühendes Leben aus dem öden Boden zu zaubern verstand. Hört man nun auch die Geschichte dieses Ortes und seiner Bewohner und deren charakteristischsten Bestandtheile, gewinnt das Ganze ein reiches Interesse für allerhand humane, wissenschaftliche und heilsame Beziehungen.

Zunächst findet man als Fremder den auffallenden Gegensatz zwischen dem ruhigen, sanften, flämisch-phlegmatischen Charakter der meisten Bewohner und mehrerer sich in allerlei Seltsamkeiten und Excentricitäten gefallenden Individuen unerklärlich. Ist es Sonntag, wird man sich noch mehr wundern, daß diese lebhafteren, seltsameren Bewohner alle nach der zweiten Hauptkirche der Oase, der St. Dymphne, strömen, während die phlegmatischen, heiteren, dicken Flamänder mit pausbäckigen Kindern, breitschulterigen Frauen und großblauäugigen Töchtern sich in der St. Amandkirche versammeln. Haben diese excentrischen Leute, die nach St. Dymphne strömen, eine eigene, besondere Religion? Sind sie eine eigene Race? Alle diese Conjecturen erklären nichts. Man muß warten, bis der Gottesdienst vorüber ist, und dann die Inschriften, Gemälde, Bildnisse und allerhand andere Monumente von St. Dymphne studiren. Dann geht uns allmählich ein Licht auf. Wir lesen, daß die heilige Dymphne, Tochter eines Königs von Irland im siebenten Jahrhundert, der ein starrer Heide geblieben, während die Tochter für das Evangelium des Menschheits-Erlösers gewonnen war, vor ihrem grimmig verfolgenden Vater floh, hier in der belgischen Campine ein stilles Asyl fand, eine Capelle baute und den Grund zu dem jetzigen Gheel legte, daß sie aber von ihrem grausamer Vater hier aufgefunden und von dessen eigener Hand enthauptet ward. Einige Geisteskranke, die zufällig diese unerhörte Gräuelthat sahen, bekamen durch diese moralische und nervöse Erschütterung ihren gesunden Verstand wieder. In ihrer Dankbarkeit schrieben sie die Herstellung ihrer geistigen Gesundheit dem mysteriösen Einflusse dieser heiligen Märtyrerin zu und erhoben sie zur Schutzheiligen aller Wahnsinnigen. Angehörige anderer Wahnsinnigen erwarteten weitere Wunder und ließen ihre im Geiste gestörten Unglücklichen vor dem errichteten Grabkreuze der heiligen Dymphne knieen. Selbst wenn’s nichts half, der Glaube blieb und dehnte sich aus und befestigte sich und hielt an und fest bis in diese Tage der blühendsten belgischen Maschinen-Industrie. Die Pilgerfahrten der Wahnsinnigen wurden wiederholt und durch neue Zuströmungen gesteigert, bis diese Kreuzzüge der Geisteskranken zu dem Grabe der heiligen Dymphne Sitte und Gebrauch und eine feste Institution, ein Cultus wurden. Viele dieser Unglücklichen wurden in der Obhut der Bewohner zurückgelassen, die so allmählich Routine und Praxis in der Behandlung dieser Kranken bekamen und zwar eine Praxis, welche die stolze Wissenschaft in Irrenhäusern erst nach Durchprobirung aller Arten von Zwangsjacken, Ketten, Fesseln und Grausamkeiten allmählich annehmen lernte.

Der Zudrang von Geisteskranken, die Wohnung, Pflege und Wartung brauchten und dafür bezahlten, machte aus der Wüste eine Oase und dehnte die Hütten um Dymphne’s Grab zu einer weiten, blühenden Garten- und Ackerstadt aus. Die Ruhe und Heiterkeit hier, die phlegmatische Gutherzigkeit der Gesunden, die Beschäftigung in Garten und Feld – dies Alles wirkte wohlthäthig

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 393. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_393.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)