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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Ein Amnestirter.

Erzählung von J. D. H. Temme.
(Schluß.)


„Sie sind noch nicht orientirt, mein Fräulein?“ fuhr der Fremde fort. „Darf ich vielleicht Ihrem Gedächtnisse zu Hülfe kommen? Schon vor mehreren Jahren stand eine ganz ähnliche Aufforderung in den Zeitungen. Anstatt der Heimath war nur damals der Buchstabe Z. zu lesen, und so war in dem Ding kein Anhalt zu finden. Diese neue Aufforderung mußte ihn desto mehr geben, denn seit acht Tagen ist eine Amnestie ertheilt; sie hat besonders viele Flüchtlinge in Zürich betroffen, und so hat der Buchstabe Z. seine Bedeutung. Wer war so schnell von Zürich in die Heimath zurückgekehrt? Nur Einer, der Graf Alexander H., es war leicht zu ermitteln, und wen konnte der Graf so angelegentlich und beharrlich suchen? Wer war I. S.? Ah, der Graf hatte eine Jugendbekanntschaft; Ida Schade heißt die junge Dame. Ida Schade? An den Namen knüpften sich auch anderweit die eigenthümlichsten Interessen. Wo war sie zu finden? Sie mußte gefunden werden. Sie war seit beinahe dreizehn Jahren verschwunden, und durch Zufall – der Zufall ist nun einmal der am meisten und am wunderlichsten herrschende Gott der Welt – durch Zufall erfuhr ich, daß vor ungefähr zwölf Jahren in dieses Städtchen eine schöne junge Dame gekommen ist, die wohl Ida Schade sein konnte. Allein auch der Zufall kann irre führen, wie ich sehe.“

„Das kann er, mein Herr,“ sagte die Lehrerin, die sich wieder erholt hatte.

„Und ich bedauere das,“ fuhr der freundliche Fremde fort, „um so mehr, da der Zufall und auch mein Irrthum zugleich die Veranlassung geworden ist, daß noch Jemand eine vergebliche Reise hierher unternommen hat.“

Die Lehrerin erbebte von Neuem. Sie konnte ihre Augen nicht erheben.

„Sie fragen nicht, wer der Jemand ist, mein Fräulein?“

Sie hatte keine Antwort, keine Frage.

„Ah, Sie errathen, daß der Graf auf dem Wege hierher ist. Er erfuhr von mir, daß Ida Schade unter dem Namen Johanna Neumann hier sei, und er nahm deshalb sofort Extrapost hierher. Ich fuhr doch noch schneller als er; denn Sie begreifen, ich hatte ein Interesse daran, bei seiner Zusammenkunft mit Ihnen zugegen zu sein. Ich meinerseits begreife nur nicht, daß er noch nicht hier ist. Indessen, da ich mich geirrt habe, so ziehe ich mich zurück; entschuldigen Sie meine Zudringlichkeit, mein Fräulein, und beiden geehrten Damen wünsche ich, daß Sie recht wohl leben mögen.“

Der freundliche und höfliche Mann verbeugte sich und ging. Die Freundin der Lehrerin athmete auf.

„Mein Gott,“ sagte sie, „jetzt weiß ich, was Alpdrücken ist.“ Aber sie mußte entsetzt und bis in den Tod erschrocken aufspringen. „Um des Himmels willen, Johanna, Du stirbst!“

Johanna Neumann war in den Stuhl, auf dem sie saß, zurückgesunken. Das Haupt war ihr auf die Seite gefallen und ihre Augen waren erloschen, ihr Gesicht hatte Farbe und Gestalt eines Leichenantlitzes. Sie lebte noch. Die Freundin unterstützte sie, sie konnte sprechen.

„Ja, ich sterbe, meine gute Marie. Der entsetzliche Mensch! – Ich mußte alle meine Kraft zusammennehmen – es dauerte so lange, und ich hatte doch nur noch so wenig Kräfte. – Ach, ich fühle, es geht zu Ende mit mir. – Es ist gut, gerade jetzt! Die Gerichte haben mich wiedergefunden, und nun auch er! Sie durch ihn. – Nur noch einen Wunsch hätte ich, ihn wiederzusehen, ihm sagen zu können, daß ich – ach, Marie, ich sterbe! O, käme er! Könnte ich in seinen Armen –!“

„Sterben“ wollte sie sagen. Sie konnte das Wort nicht mehr aussprechen, sie lag leblos in den Armen der Freundin. War es nur eine Ohnmacht? War es schon der Tod? Die Thür der Stube öffnete sich, und ein hoher, blasser Mann trat herein. Er ging lahm. Er sah die Leblose in den Armen der Freundin und stürzte zu ihr hin.

„Ist sie todt?“ fragte er, und sein ganzer Leib zitterte.

„Sie lebt.“

„Aber sie wird sterben?“

„Sie wird aufwachen, um zu sterben. Ihre letzte Kraft ist gebrochen.“

„Ja,“ sagte der hohe Fremde. „Ich sehe es.“ Dann stellte er sich still vor die Sterbende und sah ihr lange in das edle, auch im Sterben so schöne Gesicht. Dann drückte er einen Kuß auf die weiße Stirn. „Edles, treues Wesen, Du solltest eine Verbrecherin sein?“

„Madame,“ sagte er, „wird sie gewiß noch einmal erwachen?“

„Es wird bald geschehen.“

„Und dann wird sie sterben?“

„Ich fürchte es. Sie hat so viel und so lange gelitten, und ich sehe jetzt, was es war. Dazu vorhin der Schlag!“

„Eine Bitte, Madame. Legen Sie sie in meinen Arm. Sie soll an meinem Herzen sterben.“

„Es war ihr Wunsch, Herr Graf.“

„Ich denke es mir.“ Er legte die Sterbende sanft in seine Arme. „Kann ich denn nicht mit Dir sterben, meine Ida? Du hast mich geliebt mit einer Treue und Aufopferung ohne Gleichen. Aber noch heißer liebt Dich doch mein Herz.“

Sie erwachte. Ihr Blick fiel in sein Auge.

„Alexander, ich bin unschuldig.“

„Ich habe es immer gewußt, Ida. Ein Schein von Schuld war auf Dich gefallen, nein boshaft auf Dich geworfen. Du wolltest mit ihm nicht meine Gattin werden. Um meinem Drängen zu entgehen, nahmst Du selbst die fremde Schuld auf Dich. So war es.“

„So war es, Alexander.“

„Und nun bist Du doch die Meine geworden, Du edles, treues Herz.“

„Aber im Tode, Alexander!“

„Der Tod wird uns zu einem schöneren Leben vereinen.“

„Und in alter Liebe!“ Sie zuckte plötzlich heftig auf. „Er kommt!“ sagte sie und legte sich fester an ihn. Er umschlang sie mit seinen beiden Armen. Sie sah lächelnd zu ihm hinauf.

„So, so, mein Alexander! So war seit Jahren mein Wunsch, mein Traum. So zu sterben! – Ich sterbe!“

Sie war todt. Er hielt sie noch lange in den treuen Armen, still und stumm. Seine Thränen netzten das schöne Leichengesicht. Der freundliche Fremde kam mit Gensd’armen zurück. Aber mit dem Tode hatten die Gensd’armen nichts mehr zu schaffen. –




Drei Tage später saß der Oberhofjägermeister, Graf –, in einem eleganten Salon seines Hotels in der Residenz. Er hatte eine kleine Gesellschaft um sich versammelt, drei Herren und vier Damen. Alle acht waren sie jung. Die vier Herren gehörten zu der höchsten Blüthe des Adels des Landes; die vier Damen waren die Schönsten der Demi-Monde der Residenz. Sie hatten dinirt. Der Champagner sprudelte noch; Scherz und Witz flogen.

Ein Diener des Grafen trat ein. Er trug einen kleinen silbernen Teller, auf dem eine Visitenkarte lag. Er hielt seinem Herrn den Teller hin. Der Graf nahm die Karte, las den Namen und erblaßte leicht. Es war, als wenn er plötzlich, wie man sagt, einen Stich in das Herz bekommen habe, freilich nur einen leisen, wie etwa von einer Nadelspitze. Die schöne Dame, die zu seiner Rechten saß, hatte es gesehen.

„Ein Abenteuer, mein Freund?“ sagte sie.

„In der That, beinahe.“

„Ein Liebesabenteuer?“

„Ein alter Freund.“

„Ah, er darf hierher kommen? Ich liebe die alten Freunde.“

Der Bediente stand, auf Antwort wartend. Der Graf sann nach. Seine Dame, seine Freundin lachte. „Er ist verlegen,“ sagte sie zu den Anderen. Er wurde wirklich verlegen. So konnte die Schöne ihm die Karte aus der Hand nehmen, ohne daß er es gewahrte. „Alexander Graf H.,“ las sie laut.

„Graf H.?“ riefen die sämmtlichen anderen Herren. „Der Hochverräther? Der Flüchtling? Der Amnestirte? Den müssen wir kennen lernen. Du mußt ihn annehmen, hierher führen lassen.“

„Ein Demokrat, ein Hochverräther?“ riefen auch die Damen Wir müssen ihn sehen. Er muß hierher.“

Der Graf war verlegen geworden. Seine Dame flüsterte ihm in das Ohr. Der Graf wollte ihr etwas erwidern. Die Dame war seinen Worten zuvorgekommen.

„Der Herr Graf H. wird Seinem Herrn willkommen sein,“ sagte sie befehlend zu dem Bedienten.


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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 287. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_287.jpg&oldid=- (Version vom 3.6.2018)