Seite:Die Gartenlaube (1870) 050.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Wörtchens „von“, und mit ihm alle Vorurtheile, alle hemmenden Standesrücksichten. Er hörte auf Freiherr zu sein, um ein freier Herr zu werden, der sich nicht mühsam auf den dürren Pfaden einer Familientradition weiter schleppte, sondern sich seinen Weg selbst bahnte und sein Geschick selbst schuf aus dem vollen Leben der Gegenwart heraus.

Dieser Schritt jedoch hatte ihm anfangs das Vertrauen des Hauses Salten erworben, denn man hielt es für einen edeln Stolz, daß er den glorreichen Namen seiner Ahnen nicht als Hauslehrer compromittiren wollte, daß er einen Adel ablegte, den er nicht mehr mit dem erforderlichen Glanze zur Schau tragen konnte. Etwa in dem Sinne, wie ein Prinz incognito reist, wenn ihm die Mittel fehlen, seinen hohen Stand zu repräsentiren. Nur Tante Bella, die zartfühlende Seele, that es nicht anders, sie gab ihm fort und fort die Ehre, auf die er so selbstlosen Verzicht geleistet, sie nannte ihn unverdrossen Herr von Feldheim, und war überzeugt, daß sie ihm damit das Demüthigende seiner Stellung wesentlich erleichterte. Sie hüllte ihn in sein „von“ ein wie in ein moralisches wollenes Leibchen. Sie durfte ihm ja kein wirkliches stricken, der verwegene junge Mann war noch nicht reif genug, um einzusehen, wie dringend der Mensch der Wolle bedürfe, und das war es auch, was selbst Tante Bella nach und nach von ihm entfernte! Dennoch hielt sie immer noch einen rücksichtsvollen Ton gegen ihn ein, sie war es auch, die nach dem ersten Schreck auf den Einfall kam, den „Herrn von Feldheim“ zu fragen, für welche Art schweißtreibenden Thees er sich entscheide, worauf die schneidende barbarische Antwort erfolgte: „Für gar keine!“

„Das hättest Du Dir denken können,“ meinte Wika höhnisch, „der Herr Candidat ist immer anderer Meinung als wir.“

„Ich bin der Meinung, daß wir dem Knaben mit dem Thee das Mittagsessen verderben,“ erwiderte er ruhig, aber er wußte wohl, daß er tauben Ohren predigte.

Tante Lilly ward geschickt, für Lindenblüthenthee zu sorgen, und das Geklirr einiger zerschlagener Töpfe und Kannen verkündete alsbald, mit welchem Eifer sie sich der Sache annahm.

„Lieber Himmel, was stellt Lilly wieder an!“ riefen die Schwestern und eilten hinaus, um das unbedachte Kind zu schelten. Die Drei im Zimmer schwiegen, ein seltsamer Blick des Candidaten traf die junge Frau, ein Blick, der fragen zu wollen schien: „Wie lange hältst Du das noch aus?“

Da sie die befremdliche Eigenheit hatte, zu erröthen, wenn Jemand und besonders der Candidat sie scharf ansah, senkte sie auch jetzt wieder die langen goldenen Wimpern zur Erde. Alfred wurde müde vor Langeweile, er zog die Hand des Candidaten zu sich herab und lehnte seine Wange daran. Seine Mutter eilte herzu: „Willst Du Dich ein wenig auf meinen Schooß setzen, Alfred?“

„Nein,“ sagte er bestimmt.

„Wie, Alfred, Du weisest Deine Mutter zurück?“

Er faßte, ohne den Candidaten loszulassen, nach seiner Mutter Hand, sie kniete bei ihm nieder, er legte den Kopf auf ihre Schulter und seine Lippen küßten leise ihren weißen Schwanenhals, „Du süße Mutter,“ flüsterte er, „ich bin Dir doch gut, wenn ich mich auch nicht mehr auf Deinen Schooß setze.“

„Seltsames Kind, was fällt Dir nun auf einmal ein?“ sagte die junge Frau befremdet.

Da erscholl auf dem Hausflur die Stimme von Alfred’s Vater: „Wo ist meine Frau?“ Die Genannte erhob sich und ging langsam hinaus.

„Alfred,“ sagte der Candidat, „Du hast Deiner Mutter weh gethan.“

„Das thut mir leid, aber ich kann nicht anders, Herr Candidat.“

„Und weshalb nicht?“

Alfred schwieg eine Weile, dann flüsterte er leise und unter allmählich hervorquellenden Thränen: „Sehen Sie, Herr Feldheim, als neulich einmal meine Mutter weinte, wie sie so oft thut, da wollte der gute Vater sie trösten und auf seinen Schooß nehmen. Aber die Mutter fuhr auf und stieß den Vater zurück, als wäre das etwas Schreckliches gewesen – und sehen Sie, Herr Feldheim, ich weiß nicht, wie das ist, aber seitdem kann ich mich nicht mehr auf meiner Mutter Schooß setzen!“

Der Candidat war tief betroffen. Was sollte er dem Kinde sagen, welcher Finger war zart genug, um in dies verstimmte kostbare Saitenspiel wohlthätig einzugreifen? Er hatte einen neuen schmerzlichen Blick in des Knaben Seelenleben gethan, er war noch unfähig, etwas zu erwidern.

Alfred schaute unter seinem grünen Schirm voll und flehentlich zu dem Erzieher auf: „Herr Feldheim, können Sie mir nicht sagen, warum die Mutter den Vater nicht leiden kann? Sie ist gegen uns alle so gut und nur gegen den Vater nicht!“

„Mein Kind,“ sprach Feldheim und seine Stimme war bewegt, „frage das Deine Mutter selbst, sie allein hat das Recht, Dir darauf zu antworten.“

„O Herr Candidat, dazu hätte ich nicht den Muth, nein, gewiß nicht.“

„Und dennoch wäre es eines Engels Stimme, die aus Dir spräche, wenn Du es thätest,“ sagte der junge Mann mit gepreßter Brust. Alfred schaute ihn mit jenem unausweichlichen Forscherblick an, der denkenden Kindern eigen ist. Da legte der Candidat seine Hand auf des Knaben Haupt und fragte: „Mein Kind, seit wann trägst Du denn solche schwere Gedanken mit Dir herum? Das ist mir ganz neu an Dir!“

„Ich weiß es nicht, seit wann, es ist nur auf einmal so über mich gekommen, und ich wagte nie etwas davon zu sagen. Ich möchte immer weinen, wenn ich den Vater ansehe – –“ er schlang die Arme um die stämmigen Hüften des Candidaten und überließ sich seinen ausbrechenden Thränen.

„O Gott, mein Gott,“ dachte Feldheim, „wann wirst Du endlich den Himmel dieser geängstigten Seele entwölken?“ Und er bückte sich nieder in überströmendem Mitleid, hob die ganze schmächtige Gestalt des Knaben mit starken Armen empor und drückte sie an seine breite Brust. „Armes liebes Kind, dürfte ich Dich so hindurchtragen durch Dein ganzes gequältes Leben! Aber ich darf es nur eine Strecke weit, mögest Du Dir dann selbst weiter helfen können, denn das Beste, was wir sein können, werden wir doch nur aus eigener Kraft! Das ist mein Gebet für Dich!“

Der Knabe schmiegte sich innig an den starken Mann, der ihn so leicht emporhielt, als könne er ihn zu den Sternen hinaufheben. Solange er sich auf diesem mächtigen Arme wiegte, fühlte er sich so geborgen wie bei Gott.

„Ach, wenn ich einst solch ein Mann werden könnte wie Sie!“ seufzte er; „aber das kann ich nicht, dazu bin ich zu schwach und elend!“

„Mein Kind, nicht die Muskel – der Geist macht den Mann! Wir leben in einer Welt, wo eine andere Kraft herrscht als die des Leibes, wo auch der Krüppel sich seinen Platz unter Heroen erobern kann. Das Menschengeschlecht strebt immer mehr nach Vergeistigung, das Ewige in uns macht sein Recht geltend gegenüber dem Vergänglichen, es drängt dasselbe mehr und mehr zurück. Der Geist will sich immer unabhängiger vom Stoff zu machen suchen, er will nicht mit ihm untergehen. Blicke zurück, mein Kind, in die früheren Zeiten, wo rohe Gewalt der Hebel war, der Alles in Bewegung setzte, und Du wirst mit Staunen den Fortschritt erkennen, den das menschliche Geschlecht schon gemacht.“

„Und doch sagte Tante Bella, die Welt würde immer schlechter!“ meinte Alfred schüchtern.

„Das sagen alle alten Leute, welche sich in den beständigen Wechsel der Ideen nicht mehr finden können. Ein Mensch, der den Siebzigen nahe rückt, kann seine Zeit bereits überlebt haben und schon ein neues Lustrum kann ihm fremd und unverständlich sein! Wärst Du ein paar Jahrhunderte früher geboren, Du hättest bestenfalls Dein Loos in der Spinnstube zwischen Weibern und Mägden oder vielleicht in der Mönchskutte zu suchen gehabt. Irgend ein neidischer Nachbar oder Anverwandter hätte Dir, dem Schwächling, mit dem Schwert in der Hand Deinen Besitz entrissen, Du wärst, ein ohnmächtiges verachtetes Geschöpf, umhergeschleudert worden zwischen den räuberischen Fäusten Deiner ritterlichen Vetterschaft. Und jetzt, jetzt darfst Du Deines schwachen Körpers spotten, denn Du kannst Dich durch die Kraft Deines Geistes, sei es in der Wissenschaft, sei es in der Industrie oder in der Politik, zu einer Macht erheben. Ist diese Welt, in welcher der Gedanke eine solche Herrschaft über die Materie ausübt, eine schlechtere geworden?“

„Nein, sicher nicht!“ rief Alfred und ein Strahl brach aus seinen Augen, als habe er eine göttliche Verkündigung empfangen. Er umschlang den Lehrer mit dankbarer Inbrunst. Der erstickende herzbeklemmende Einfluß des Zweiaugengeistes war gebrochen, so lange diese Beiden einander in den Armen hielten.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_050.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)