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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

dort Karl Follen’s Geist am meisten vertrat –, dann Pfarrer F. aus der Wetterau (ein Mann, der sich durch freisinnige Reden im Jahre 1813 hervorgethan hatte, den Behörden aber in keiner Art verdächtig war, weil er mit großer Klugheit handelte) und der Apothekergehülfe Löning aus dem Nassau’schen, ein jüngerer Mann, welcher erst seit Kurzem aus innerem Drange die Bekanntschaft der Vaterlandsfreunde gesucht und sich ihnen angeschlossen hatte. Man einigte sich darüber, daß Ibell fallen müsse, und wollte das Loos darüber entscheiden lassen, welcher von den Dreien das Urtheil vollstrecken solle. Es fiel auf den ersten der drei Genannten, und wäre es bei dieser Entscheidung geblieben, so hätte unfehlbar des Ministers letzte Stunde geschlagen. Löning aber beruhigte sich bei dieser Entscheidung nicht, führte (ganz genau so wie wir es im Sand’schen Falle gesehen haben) überzeugend aus, daß die beiden Anderen zu Größerem berufen und fähig seien, daß er, der weniger Bedeutende, nicht hoch in Anschlag komme, daß mit Recht ihm, dem näheren Landsmanne Ibell’s, die Rolle des Rächers zukomme, und forderte die That so bestimmt für sich, daß ihm endlich nachgegeben wurde. Niemand konnte bei diesen Verhandlungen ahnen, daß Einer von den Dreien nicht lange vorher ein zartes Verhältniß angeknüpft hatte; er hatte es unter der Voraussetzung gethan, daß die Pflicht für das Vaterland jeder anderen vorgehe, und von den wenigen Frauen, mit welchen wir umgingen, verlangten wir eben dieselbe Opferfreudigkeit, welche uns beseelte.

Löning’s körperliche Kraft und Gewandtheit waren seinem Willen nicht gleich, und so entzog sich Ibell dem gegen ihn geführten Dolchstoß. In der ersten Nacht, welche Löning in dem Gefängnisse zubrachte, während man die ausgedehntesten Vorbereitungen zu einem Verhöre traf, von welchem die wichtigsten Aufschlüsse erwartet wurden, tödtete er sich selbst durch verschluckte Stücke einer Glasscheibe; es giebt wenige gräßlichere Todesarten; aber die Möglichkeit, seine Freunde in Verdacht zu bringen, war damit abgeschnitten.

Sand’s und Löning’s Thaten äußerten in keiner Weise diejenige Wirkung auf das Volk, welche man irrig davon erwartet hatte. Die Gebildeteren verurtheilten fast durchgehends das eingeschlagene Verfahren und die Grundsätze, aus welchen es hervorging, vom sittlichen Standpunkte aus; die große Masse aber blieb völlig gleichgültig bei dieser Selbstaufopferung einzelner „Enthusiasten“. Die bald allerwärts eintretende Verfolgung und Einkerkerung der sogenannten „Demagogen“ rührte die Menge so wenig, daß man ihnen vielmehr die verschärften Maßregeln der Regierungen zur Last legte. Es blieb jenen nichts Anderes übrig, als entweder in anderen Ländern oder Welttheilen eine Zuflucht oder, einer besseren Zukunft harrend, einstweilen in unverpönten Beschäftigungen, in der Gründung eines eigenen Herdes Befriedigung zu suchen, oder aber, was Manche thaten, mit den Regierungen ihren Frieden zu machen. Das neuheranwachsende Geschlecht war keineswegs geneigt, dieselbe gefährliche Bahn zu betreten; der alte Geist verschwand schneller, als man hätte erwarten sollen, um niemals in gleicher Art wieder zu erscheinen. –

Soweit Münch. Wir müssen hinzufügen, daß auch er hier nicht den Geist der Burschenschaft meint, wie er von Jena aus über Deutschland verbreitet worden ist, sondern den Follen’schen Geist der Schwarzen von Gießen. Der Geist der echten Burschenschaft hat noch 1848 mitgefochten und 1870 mitgesiegt.




Aus dem Lande der Freiheit.


Von Ludwig Büchner.[1]


Erster Brief.


„Amerika, du hast’s doch besser
Als unser Continent, der alte!
Hast keine verfallenen Schlösser
Und keine Basalte!
Dich stört nicht im Innern
Zu lebendiger Zeit
Unnützes Erinnern
Und vergeblicher Streit!“

Besser, als mit diesen berühmten Versen des Altmeister Goethe, kann der Gegensatz zwischen dem mit riesiger Gewalt emporstrebenden neuen Welttheile Amerika und dem alten und vielleicht auch alternden Europa nicht wohl bezeichnet werden. Was Amerika fehlt – ist die historische Erinnerung, und wenn dieses auf der einen Seite als ein Mangel bezeichnet werden darf, so ist es doch auch auf der andern Seite ein großer Vortheil, indem es den Welttheil nöthigt, stets vorwärts, nie rückwärts zu blicken, ähnlich einem Menschen, welcher ein neues Leben angefangen hat und durch keine Erinnerung an seine Vergangenheit mehr gestört sein will. Daraus erklärt sich denn auch das hastige, nie ruhende Vorwärtsstreben des Amerikaners, welches durch keine Rücksicht auf hinter ihm Liegendes gelähmt und durch die Großartigkeit seines Welttheils selbst, durch das Ungebundene und Riesenhafte der ihn umgebenden Natur unterstützt wird. Im Gegensatze dazu gleicht unser Europa einer schon etwas alternden, durch viele Schicksalsschläge und bittere Erfahrungen vorsichtig und ängstlich gemachten Matrone, welche ihr ferneres Leben in möglichster Ruhe zu genießen wünscht. Dennoch ist und bleibt sie die Mutter des jungen Riesen im Westen und übertrifft ihn weit durch Erfahrung und Weltkenntniß nicht bloß, sondern auch durch den seit lange aufgehäuften Besitz zahlreicher geistiger und materieller Schätze. Namentlich in geistiger Beziehung empfindet Amerika, welchem seine fieberhafte Thätigkeit im Erwerben weder Zeit noch Muße zur Einkehr der Geister in sich selbst läßt, tief seine Abhängigkeit von dem durch Jahrtausende alte Cultur und Wissenschaft getragenen Europa; und dieses eigenthümliche Verhältniß mag mit dazu gewirkt haben, daß in Folge einer besonderen Verkettung von Umständen und folgend einer Jahre hindurch sich wiederholenden Einladung der Verfasser dieser Briefe sich am 11. September dieses Jahres auf dem von Hamburg nach New-York segelnden Dampfer der Hamburger Paketfahrt-Actiengesellschaft „Thuringia“ wiederfand, nachdem er von seinen Lieben in der Heimath einen dieses Mal nicht gerade leichten Abschied genommen hatte. Denn als er auf dem Perron des Darmstädter Bahnhofes an demselben Tage, als der Kronprinz des deutschen Reiches unter ungemessenem Jubel der Bevölkerung dort einzog, umwogt von drängenden Menschenmassen, seinen vier blühenden Kleinen zum letzten Male in das Auge geschaut hatte, nicht wissend, ob und ob er sie so wiedersehen würde, da durfte er sich der Thränen nicht schämen, welche sich ihm mit Gewalt in das Auge drängten. Aber der brausende Zug führte ihn rasch davon und ganz anderen Lebensinteressen entgegen, als den bisher gewohnten. In der Jugend nimmt man solchen Wechsel leicht und mit Vergnügen entgegen; in einem gewissen Alter dagegen wird es schwer, Allem, was uns an das Leben und an das gewohnte Leben knüpft, für längere Zeit Lebewohl zu sagen.

Und so bin ich also für beinahe ganze vierzehn Tage auf den Raum eines Schiffes beschränkt, das zwar nicht zu den kleinen gehört, sondern bei einer Breite von circa fünfzig und einer Länge von drei- bis vierhundert Fuß nicht weniger als tausend und mehr Menschen Unterkunft gewährt, neben ungeheuren Massen von Gepäck, Proviant, Fracht, Steinkohlen etc., und in dessen Bodenraum man hinabblickt, als ob man beinahe auf einer Kirchthurmspitze stände. Aber wäre das Schiff auch zehnmal so groß, als es wirklich ist, auf dem unendlichen Ocean gleicht es doch nur einer Nußschale, mit welcher Wind und Wetter spielen. Auch ist der Raum, über den der Einzelne an Bord eines solchen Riesenbaues zu verfügen hat, ein gar geringer; und in der Schlafkoje, wenn sie auch dem sogenannten oberen Salon der mit großem Luxus ausgestatteten ersten Kajüte angehört, muß man sich in Gesellschaft eines Gefährten mit einem Räumchen begnügen, das

  1. Wir benachrichtigten unsere Leser bereits früher, daß der berühmte Verfasser von „Kraft und Stoff“ (Ludwig Büchner) behufs Vorlesungen nach Amerika berufen worden sei und uns von dort aus regelmäßige „Reisen und Vorlesungsbilder“ senden würde. Heute beginnen wir mit einem Vorbericht, dem nun baldigst die Schilderungen des geistreichen Naturforschers folgen werden.
    Die Redaction
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 725. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_725.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)