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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Behandlung der aufblühenden Kinderwelt war bekanntlich Heinrich Pestalozzi. Er bot zuerst den Schulkindern nicht blos Worte, erniedrigte sie nicht zu „A-B-C-Puppen“, sondern verlangte, daß das Kind die Worte auch verstehe und zunächst mit allen seinen Sinnen die Dinge selbst nach ihren wichtigsten Eigenschaften kennen lerne. Da aber der Mensch die Dinge nicht blos kennen lernen will, sondern sie auch als Mittel zu seinen Zwecken gebrauchen, kurz, da der Mensch nicht blos in sich hineinlernen, wenn es auch noch so naturgemäß geschähe, sondern auch wiederum aus sich heraus wirken und schaffen will, so fühlte Pestalozzi selbst eine Lücke in seiner Pädagogik; er fühlte, daß sein A-B-C der Anschauung einer Ergänzung bedurfte, und hier ist nun in der Entwicklung der pädagogischen Ideen die Stelle, wo Friedrich Fröbel, Pestalozzi ergänzend, eintritt mit dem Grundsatze des freien Schaffens, der freien Selbstthätigkeit.[1]

Das eigentliche Motiv der Fröbel’schen Pädagogik ist also die Idee, den Menschen von seiner schaffenden Seite zu erfassen, seinen Trieb zu schaffender Selbstthätigkeit als Hebel zur Erziehung desselben zu benutzen. Es ist leicht zu bemerken, wie dieses Princip das Pestalozzi’sche ergänzt. Sorgt nämlich die von Pestalozzi erstrebte Veranschaulichung dafür, daß des Kindes Vorstellungen richtige und nachhaltige, oder lebenskräftige seien, so will das Princip der schaffenden Selbstthätigkeit, daß innerlich erzeugte Vorstellungen nicht todt im Glasschranke des Gedächtnisses aufgespeichert daliegen, sondern wiederum heraustreten, sich verkörpern, und zwar vor Allem zur Erweckung von Muth und Selbstvertrauen, von Fleiß und freier, eigentriebiger Lust zur Thätigkeit, denn diese Eigenschaften müssen dem Kinde früh schon zu Eigen gemacht werden, wenn es im Handeln und Arbeiten je zu Tüchtigkeit und zu geistiger und körperlicher Geschicklichkeit und Geläufigkeit gelangen soll. Es ist selbstverständlich, daß von dem Erzieher, welcher den Trieb zur Selbstthätigkeit mit Erfolg benutzen will, von vornherein eine Auswahl von erprobten Darstellungsmitteln getroffen und eine Stufenfolge derselben eingehalten werden muß. Eine solche Auswahl und Stufenfolge für die ersten sechs Lebensjahre hat nun Fröbel auch aufgestellt, aber er hat sie nicht ersonnen und erkünstelt, wie der Sache Unkundige meinen und sagen, sondern aus dem Leben gegriffen. An die Spitze dieser Spiel- und Beschäftigungsmittel stellt er mit unbestrittenem Rechte den Ball, der dem kleinen Kinde in einer demselben faßbaren Größe und nach und nach in den sechs Hauptfarben zu reichen ist und zwar bald frei, bald an einem Faden schwebend. An diese Gabe reihen sich, etwas größer und aus Holz gearbeitet, eine Kugel, ein Würfel und, als Vermittelung dieser Gegensätze, eine Walze.

Das Princip der schaffenden Thätigkeit tritt aber deutlicher erst mit der dritten Gabe hervor. Es besteht diese aus einem würfelförmigen Kästchen, das acht gleiche Würfelchen enthält und den ersten Fröbel’schen Baukasten bildet. Das nächste Baukästchen, die vierte Gabe, besteht aus acht länglichen Täfelchen, die zusammen einen mit dem vorigen gleich großen Würfel bilden. Diesem folgen als fünfte und sechste Gabe noch zwei weitere, etwas größere, aber ebenfalls würfelförmige Baukästchen, die wiederum vielfach getheilte Würfel enthalten. Uebrigens muß man nicht meinen, daß dem Kinde daneben nicht auch anderes Spielzeug gegeben werden dürfte. Dasjenige aber, womit das Kind zumeist etwas anfangen kann, wird ihm bald von selbst das liebste werden, und das sind eben die Baukästchen. Dazu kommt, daß der Inhalt derselben dauerhafter ist, als jenes Spielzeug, mit dem sich bald nichts Anderes anfangen läßt, als das Ende, die versuchte Umwandelung bis zur Zerstörung.

Neben dem Bauen bietet der Kindergarten noch mancherlei andere Beschäftigungen, wie das Stäbchenlegen, Ausnähen durch Punkte bezeichneter Figuren, das Flechten, Zeichnen etc., alle trefflich geeignet, des Kindes Trieb zu schaffender Thätigkeit zu fördern. Daß die Kinder dabei auch wirklich nutzbare Sächelchen fertigen, setzt sie in den Stand, durch Verschenkung derselben Anderen eine Freude zu bereiten und Liebe und Dankbarkeit zu beweisen. Und das nun ist ein Moment von allergrößter Bedeutung, zumal in einer Welt und in einer Zeit, in welcher die Liebe in Vielen so leicht, so gar leicht erkaltet. Aber es soll in den Kindern auch Aufmerksamkeit auf die Gewächse des Gartens erweckt und es sollen ihnen diese lieb und die Pflege derselben durch eigene Bethätigung angenehm gemacht werden. Ferner werden den Kleinen passende Erzählungen geboten; es werden mit ihnen leichte Freiübungen vorgenommen, geeignet, die Kraft und Gesundheit des Körpers zu fördern, worin die Kindergärtnerin überhaupt einen wesentlichen Theil ihrer Aufgabe erblicken muß. Endlich sollen die Kinder im Kindergarten schon vom dritten Jahre an mit anderen menschenwürdig umgehen und in geselligem Spiele sich mit einander schuldlos freuen lernen, ein Erziehungsmittel, dessen möglichst frühe Anwendung von höchster Wichtigkeit ist, das aber vom Elternhause allein meist gar nicht und von der Schule erst drei Jahre später und nur in weit unvollkommenerer Weise gewährt werden kann.

Durch die Schöpfung des Kindergartens hat Fröbel die Mütter keineswegs ihrer heiligsten Pflicht der erziehlichen Fürsorge für die Kleinen enthoben, wohl aber hat er der Familienerziehung theils ein Musterbild, theils eine Ergänzung gegeben, der rechten Schule somit, die an geweckten, lebendigen Kindern ihre Freude hat, die besten Dienste geleistet. Den Jungfrauen insbesondere aber hat er die vortheilhafteste Gelegenheit geschaffen, im wichtigsten Theile aller weiblichen Bildung, in der Kunst der Erziehung kleiner Kinder, die wünschenswertheste Vollendung zu erlangen. Freilich, alle Rathschläge Fröbel’s als unbedingt richtig ohne Weiteres zu befolgen, wäre ein Zeichen arger Beschränktheit oder Denkunfähigkeit, wie aller Glaube an menschliche Unfehlbarkeit. Es ist ja nicht zu leugnen, Fröbel’s Denken erscheint in seinen Schriften meist wenig klar, auch wo er nicht mit den schwierigsten Begriffen und Problemen der Metaphysik zu thun hat, sein Stil ist nur zu oft schwülstig und abstoßend und seine Verschen vollends – zumal wenn man sie in Masse in der herausfordernden Form gedruckter Zeilen vor sich sieht – sind vielfach[WS 1] äußerst läppisch und kindisch; aber dennoch und trotz alledem und alledem ist und bleibt sein Verdienst um die Pädagogik – um die Menschen ein außerordentliches. Es ist nun eine heilige Pflicht der Lebenden, an dem lebendigen Werke des Dahingegangenen fortzuarbeiten und es fort und fort zu vervollkommnen. Es giebt jetzt auf dem Felde der Pädagogik in der That nichts Wichtigeres, als Fröbel’s Hauptidee weiter zu entwickeln und allgemeiner und auch auf dem Felde der Schule verwirklichen zu helfen, vor Allem aber seinen Wahlspruch: „Kommt, laßt uns unseren Kindern leben!“ anzunehmen und mit seiner Hingebung zu befolgen.

Mit den Kindergärten sind übrigens nicht die Kinderbewahranstalten zu verwechseln. Diese behalten die drei- bis sechsjährigen Kinder solcher Eltern, welche beiderseits ihrer Nahrung nachgehen, nicht blos drei bis fünf Stunden, sondern den ganzen Tag über und geben denselben gegen geringe Zahlung auch die Kost. Da solche Anstalten, so weit mir bekannt, zur Zeit noch nicht von Kindergärtnerinnen, wohl aber hier und da von Diaconissinnen geleitet werden, so kann den Kleinen in denselben erziehliche und bildende Einwirkung unmöglich in wünschenswerther Weise zu Theil werden. Diese milden Stiftungen scheinen nicht selten von ängstlich frommen Leuten gegründet worden zu sein, die da meinen, gute Menschen erziehen zu helfen, wenn sie dafür sorgen, daß die Kleinen veranlaßt werden, möglichst oft Gebetsworte nachzusagen und biblische Geschichten anzuhören, die kaum im dritten Schuljahre am Platze sind. Ein Frauenzimmer, die eine solche Anstalt leitete, erklärte mir einst mit unheimlicher, ich möchte fast sagen, tückischer Affectation: „Mit kleinen Kindern kann man nicht genug beten!“ In einer andern Bewahranstalt hing das Bild des blutenden gekreuzigten Christus. Eine derartige Methode, fromme Menschen zu bilden, zeugt, wenn sie mit voller Ueberzeugung gehandhabt wird, von tiefstem Mißtrauen gegen die Menschennatur, und so erscheinen hier Die, welche sonst als die Gläubigsten gelten, als die Allerungläubigsten. Sie gehören zur Partei gewisser Classen von Theologen; den Pädagogen sind sie schnurstracks entgegengesetzt, denn diese brauchen vor Allem ein Herz voll Vertrauen zur Menschennatur, voll Glauben an des Menschen Zukunft, voll Hoffnung auf seine Entwickelung und voll Liebe zu seiner Bestimmung: das Wahre zu erforschen, Gutes zu schaffen und Schönes zu gestalten. Es sind eben die

  1. Ueber Friedrich Fröbel und sein Wirken hat die Gartenlaube im Jahrg. 1853 in Nr. 6 und 8, und über Heinrich Pestalozzi 1859 in Nr. 13 (Babeli) und 1868 in Nr. 35 (der Reformator der Erziehungslehre) ausführliche Artikel gebracht.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: viefach
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 739. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_739.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)