Der Reformator der Erziehungslehre

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Autor: Gustav Steinacker
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Titel: Der Reformator der Erziehungslehre
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 35–36, S. 548–551, 566–568
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Der Reformator der Erziehungslehre.

Von Gustav Steinacker.

Der 9. December 1755[WS 1] brachte, wie an vielen Orten, so auch in der lateinischen Schule der guten Stadt Zürich eine ungeheuere Aufregung hervor. Es war Nachmittags zwischen zwei und drei Uhr; der Lehrer gerade im besten Zuge, seinen neun- bis zehnjährigen Rangen die lateinischen Declinationen einzubläuen, als plötzlich ein gelber Schein sich über die kleinen runden Fensterscheiben verbreitete und eine ungewohnte Erschütterung zu verspüren war. „Ein Erdbeben!“ rief der Lehrer, und die zum Tode erschreckten Knaben rannten mit bleichen Gesichtern von ihren Plätzen hinweg die Treppe hinab auf den Schulhof. Die meisten liefen, unbekümmert um ihre Bücher, Mappen und Mützen, eiligst heim.

Unter den noch Zurückbleibenden befand sich auch der damals kaum zehnjährige Heinrich Pestalozzi. In allen Knabenspielen der unbehülflichste unter sämmtlichen seiner Mitschüler, wollte er, der voll blinden Vertrauens allen Menschen und auch sich selbst stets mehr zutraute, als er sollte, dabei doch auf gewisse Weise immer mehr sein als die andern, die ihn zwar um seiner Gutmüthigkeit und Dienstbeflissenheit willen liebten, aber doch auch oft ihr Gespött mit ihm trieben, wobei ihm einer seiner Mitschüler einmal den hochtönenden Beinamen „Heiri Wunderli von Thorliken“ beigelegt hatte.

„Ach, liebster Heiri!“ riefen jetzt Einige, „hol’ uns doch unsere Mappen herab!“ Und „nicht wahr, Pestaluzz’,“ rief ein Dritter und Vierter, „auch meine Sachen bringst Du mir mit? Ich traue mich vor Angst nicht hinauf, die Treppe möchte einstürzen.“ „Dir, Wunderli,“ meinte der Zaghaften einer, der selbst in der allgemeinen Angst seine Spöttereien nicht lassen konnte, „Dir stößt gewiß nichts zu, Du bist ja immer der Held, der etwas vor uns voraus haben will.“ – Und der gutmüthige, gefällige Heiri unternahm wirklich das Wagstück und kam, mit den Büchern, Mappen und Mützen der Genossen beladen, glücklich wieder auf dem Schulhof an. „Dank’ Dir, Brüderchen!“ erscholl es von allen Seiten.

Ein neuer Erdstoß erfolgte. An eine Fortsetzung der Schulstunden war unter diesen Umständen nicht zu denken, und auch unser Heinrich Wunderlich lief heim nach dem Rüdenplatze, wo seine Mutter, die arme Wundarztswittwe, mit ihren drei unerzogenen Kindern wohnte, denen der fünf Jahre früher gestorbene Vater, der als geschickter Augenarzt in Ansehen gestanden, nur ein kleines Vermögen hinterlassen hatte. Als er fühlte, daß sein Ende nahe war, hatte er das gute Babeli vor sein Todtenbett gerufen, welches er schon in den wenigen Monaten, seit es vom Dorfe weg in sein Haus getreten war, als ein Dienstmädchen von seltener Treue und Tüchtigkeit erprobt hatte. „Babeli,“ sprach er zu ihr, „um Gottes Erbarmen willen, verlaß meine Frau nicht, wenn ich todt bin! Ohne Deinen Beistand ist sie nicht im Stande, meine Kinder bei einander zu halten, und sie kommen in harte, fremde Hände.“ Da sprach Babeli gerührt: „Ich verlasse Ihre Frau nicht, wenn Sie sterben, ich bleibe bei ihr bis in den Tod, wenn sie mich nöthig hat.“ Der sterbende Vater war beruhigt; mit diesem Trost im Herzen verschied er.

Unser Heinrich, am 12. Januar 1746 zu Zürich geboren, war von der Wiege an zart und schwächlich und wuchs so in sehr beschränkten Verhältnissen an der Hand der besten liebevollsten Mutter und unter der Hut des treuen Babeli, das emsig sparen half, als ein rechtes Muttersöhnchen auf, wie er später selber bekannte. Fehlte dem zarten, träumerischen Knaben, dessen Geistes- und Gemüthsanlagen sich frühe entfalteten, die dem Kindesalter so nothwendige Kraftbildung, so war die durchaus liebevolle weibliche Leitung, die er in der Wohnstube der Mutter genoß, wohl geeignet, um jene Besonderheit seiner Natur einseitig zu nähren,

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Pestalozzi’s Abschied von den Waisenkindern.0 Originalzeichnung von Theobald von Oer.

[550] welche später das eigenartige Gepräge der Sinnes- und Denkungsart des Mannes begründete. Er war eben „Heinrich Wunderlich“ und blieb es all’ seine Lebtage.

Wie er in der Fülle seines liebeathmenden Herzens den Seinigen daheim mit rückhaltloser Offenheit, ohne Arg und Hehl, zutraulich sein Inneres preisgab, so lernte er die vorsichtige Zurückhaltung und bedächtige Ueberlegung niemals kennen und üben, die zu einem weltklugen Handeln im späteren Leben so nothwendig erscheint, soll der Mann nicht Zeitlebens Kind bleiben. Er blieb stets schüchtern, linkisch, verlegen und unbeholfen. Konnte man ihn auch nicht gerade unreinlich und schmutzig nennen, so lag ihm doch wenig daran, ob er ungewaschen und ungekämmt, etwas schnudelig und unordentlich, mit Tintenflecken an den Fingern, schiefem Hemdkragen, herabhängenden Strümpfen und beschmutzten Schuhen auf der Straße oder in der Schule erschien.

In dem eine Stunde von Zürich, auf der rechten Seite der Limmat zwischen freundlichen Rebenhügeln gelegenen Dorfe Höngg, wo Pestalozzi’s mütterlicher Großvater Hozze Pfarrer war, verbrachte der Knabe und Jüngling häufig seine Schulferien. Wie hier zuerst der Gedanke in ihm rege wurde, sich selbst dem Prediger- und Seelsorgerberufe zu widmen, den sein Großvater in einfach altväterlicher Weise so gewissenhaft erfüllte, so wurde daselbst durch das Elend einer an Leib und Seele verkümmerten Fabrikbevölkerung zugleich noch ein anderer Keim in seine Seele gepflanzt, der in seinen späteren Jahren unter Dornen und Noth zu reifen und edle Früchte zu bringen bestimmt war: die Liebe nämlich zum niedern Volk, der Sinn für die wahren Bedürfnisse desselben und der Trieb für die Verbesserung der Volksbildung.

In jener Zeit, wo er, achtzehn Jahre alt, in das Collegium humanitas in Zürich eingetreten war, schloß er sich mit aller Gluth seines für Wahrheit und Recht begeisterten Gemüthes jenem von Lavater, Füßli und Fischer gestifteten Freundesbunde an, zu dessen wesentlichem Zwecke es gehörte, alle Ungerechtigkeit, welche diese Jünglinge vornehmlich im Verhältniß der Patricier zum unterdrückten Landvolke begehen sahen, gleich einer heiligen Schaar von Rächern furchtlos zur öffentlichen Kunde zu bringen. So verklagten sie den ungerechten Landvogt Grebel[WS 2], zogen die willkürlichen Bedrückungen des Zunftmeisters Brunner an das Licht der Oeffentlichkeit, befehdeten schlechte Pfarrer, nahmen sich überall Solcher an, die zu arm und niedrig waren, ihre Forderungen geltend zu machen, strebten die gedankenlosen Volkswahlen zu verbessern und suchten aller Orten einzugreifen, wo Ungerechtigkeit geübt wurde. Freilich mußte solches in seiner Quelle edle und hochherzige, aber immerhin unberufene, nicht selten eigenmächtige Treiben bald der Regierung, bald den Vätern, bald den Jünglingen selbst vielfachen Verdruß zuziehen.

Schon früher war Pestalozzi in seinem Schulleben durch Verletzung seines Rechtsgefühls zu thätlichem Einschreiten bewogen worden. Er hatte einst mit einem ungerechten, unwürdigen Unterlehrer einen Auftritt, wobei der kühne Vertheidiger seines schwerverletzten Rechtes zum Erstaunen seiner ganzen Classe siegte. Im Gefühle seiner Kraft und seines Sieges, suchte er nun jedem Unrecht zu wehren. Einst zeigte er heimliche Gräuel einer öffentlichen Erziehungsanstalt den Vorstehern in einem anonymen Briefe an. Er war aber nicht schlau genug, wurde verrathen und zog sich Haß zu. Die Untersuchung bestätigte Alles, was er gesagt hatte. Man verlangte, daß er den Knaben nennen solle, der ihm die Nachricht mitgetheilt. Das wollte er nicht, und als man ihm mit exemplarischer Strafe drohte, entfloh er zu seinen Großeltern über Land. Dort war er Zeuge einer neuen Ungerechtigkeit und Willkür. Die Stadt Zürich hatte eben angefangen, den Handel der Landleute auf alle Weise zu beschränken. Da entstand in ihm der feste Entschluß: „Einst will ich euch, ihr armen Unterdrückten, zu eurem Rechte verhelfen!“ Dieser Gedanke wuchs mit ihm fort und befestigte sich immer mehr in ihm. Volksrecht, Volkskraft, Volkstugend – das ward der Mittelpunkt seiner Gefühle und seiner Thätigkeit.

Mit den edelsten Vorsätzen, für das Volk zu wirken, wie sie durch die gerade damals auftauchenden Rousseauschen Schriften und Freiheitslehren noch mehr angefeuert und gekräftigt wurden, widmete er sich zuerst dem Studium der Theologie. Aber bei seinen Predigtversuchen auf der Kanzel, die er mehrmals auf dem Lande betrat, erging es ihm wunderlich genug. In seiner ersten Predigt blieb er einige Male stecken und verirrte sich im Vaterunser, ein ander Mal brach er wunderlicher Weise mitten in der Predigt in unwillkürliches Lachen aus, und das dritte Mal, so wird wenigstens erzählt, mußte es der auf der Dorfkanzel durch drei volle Stunden in seine Gedanken und Gefühle vertiefte jugendliche Redner erleben, daß ihn die Zuhörerschaft sich selber und dem Küster überlassen hatte, ehe er zum Schluß gekommen war.

Diese Mißerfolge bestimmten ihn, der Theologie zu entsagen und sich der Rechtswissenschaft zu widmen. Doch auch sie sollte ihn nicht festhalten; während eines Sommeraufenthaltes in einem der lieblichen Orte am linken Ufer des Zürichsees lernte er seine künftige Gattin, die Tochter des Züricher Kaufmanns Schultheß, kennen und faßte in der Lebhaftigkeit seiner Statur zugleich eine solche Liebe zur Landwirthschaft, daß er beschloß, sich ihr ganz hinzugeben und auf dem Boden eines ruhigen, glückverheißenden, häuslichen Lebens die Träume seines Herzens für das Wohl des Volkes zu verwirklichen. Bei einem Gutsbesitzer im Emmenthal versuchte er sich zum Landwirth auszubilden, allein bei seinem unpraktischen Wesen kehrte er nur als ein großer landwirtschaftlicher Träumer in seine Vaterstadt heim, um sich, einundzwanzig Jahre alt, seinen häuslichen Heerd zu gründen.

Höchst charakteristisch für seine Art und Weise ist die Schilderung, welche er in einem seiner ersten Briefe an „die theure, einzige Freundin seines Herzens“ von sich selbst entwirft, „Von meiner großen, in der That sehr fehlerhaften Nachlässigkeit[WS 3] in allen Etiketten und überhaupt in allen Sachen, die an sich keinen Werth haben,“ so schreibt er, „bedarf ich nicht zu sprechen, man sieht sie in meinem ersten Anblick. Auch bin ich Ihnen noch das offene Geständniß schuldig, daß ich die Pflicht gegen meine geliebte Gattin der Pflicht gegen mein Vaterland stets untergeordnet halten werde, und daß ich, ungeachtet ich der zärtlichste Ehemann sein werde, es dennoch für meine Pflicht halte, unerbittlich gegen die Thränen meines Weibes zu sein, wenn sie jemals mich mit denselben von der geraden Erfüllung meiner Bürgerpflicht, was auch immer daraus entstehen möchte, abhalten wollte.“ – – „Ohne wichtige, sehr bedenkliche Unternehmungen wird mein Leben nicht vorbeigehen. Ich werde meine ernsten Entschlüsse, mich ganz dem Vaterlande zu widmen, nicht vergessen; ich werde nie aus Menschenfurcht nicht reden, wenn ich sehe, daß der Vortheil meines Vaterlandes mich reden heißt. Mein ganzes Herz gehört meinem Vaterlande. Ich werde Alles wagen, die Noth und das Elend meines Volkes zu mildern. Welche Folgen können die Unternehmungen, die mich drängen, nach sich ziehen, wie wenig bin ich ihnen gewachsen, und wie groß ist meine Pflicht, Ihnen die Möglichkeit der großen Gefahren, die hieraus für mich entstehen können, zu zeigen!“

Dieser Brief scheint indeß die Erwählte seinen Herzens nicht abgeschreckt zu haben, denn am 24. Januar 1769 vermählte sich Pestalozzi, nach endlich erlangter Einwilligung der Eltern, mit seiner geliebten Anna, die sich ihm und seinen Lebensbestrebungen mit aufopfernder Liebe anschloß und diese bis zu ihrem am 12. December 1815 erfolgten Tode unter den schmerzlichsten Wechselfällen des Schicksals treu bewährt hat. Pestalozzi hatte sich im Birsfelde achtzig Morgen Land als Grund zu einem Gute gekauft, das er Neuenhof nannte und wo er, gegen den Rath aller seiner Freunde, ein kostspieliges Wohnhaus im italienischen Kunstgeschmack baute. Ein angesehenes Handelshaus in Zürich verband sich mit ihm zum gemeinschaftlichen Unternehmen einer großartigen Anlage von Krapppflanzungen, zog sich jedoch nach einiger Zeit, auf mehrfach erhaltene Warnungen und ungünstige Gerüchte, davon zurück.

Pestalozzi gerieth dadurch in eine üble Lage. Dennoch verzagte er nicht. Er nahm vielmehr den Kampf gegen das Schicksal auf und beschloß, trotz der Noth, in die er durch diesen Rücktritt des Züricher Hauses versetzt wurde, das Begonnene nicht nur fortzuführen, sondern sein Landgut zum festen Mittelpunkt seiner landwirthschaftlichen und – pädagogischen Bestrebungen zu machen.

Denn er wollte noch Höheres. Im Kreise von Bettelkindern wollte er fortan leben und mit ihnen in Armuth sein Brod theilen, um Bettler wie Menschen leben zu machen. Er fand begüterte, opferwillige Freunde, die ihm behülflich waren, seinen edeln, hohen Zweck, der ihn nicht ruhen und rasten ließ, thatkräftig in’s Werk zu setzen. Im Jahre 1775 ward die Armenschule auf dem Neuenhof eröffnet. Von allen Seiten strömten ihm arme [551] Kinder zu; nicht wenige raffte Pestalozzi selbst aus ihrem Elend von der Straße auf. Bald hatte er fünfzig Zöglinge, welche im Sommer mit Feldarbeit, im Winter mit Spinnen und anderer Handarbeit beschäftigt, gleichzeitig unterrichtet, besonders durch Sprachübungen und Kopfrechnen in ihrem Denkvermögen geübt und aufgehellt werden sollten.

Aber trotz der edelsten, rührendsten, aufopferndsten Liebe, die ihn beseelte, trotz der zum Theil neuen und richtigen Grundsätze, die er bei dem Unterricht und der Erziehung jener Kinder zur Anwendung brachte, scheiterte das Unternehmen durch den Mangel praktischen Sinnes von Seiten seines Begründers, sowie an unzähligen Mißgriffen und Schwierigkeiten, die zu vermeiden oder zu überwinden es Pestalozzi an Einsicht und Geschick fehlte. Im Jahre 1780 löste sich, nach fünfjährigem Bestand, die Armenanstalt auf dem Neuenhofe gänzlich auf, und erst später führte der umsichtige und praktische E. v. Fellenberg in seiner „Wehrli-Anstalt“ zu Hofwyl unweit Bern Dasjenige mit Glück und Erfolg aus, was Pestalozzi angeregt und versucht, aber nicht dauernd zu begründen vermocht hatte.

Dieser, dessen hochherzige Gattin beinahe ihr ganzes Vermögen für ihn verpfändet hatte, lebte nun in Armuth und Dürftigkeit noch achtzehn Jahre auf dem Neuenhof. Aber gerade in diese Zeit, in welcher sein edler Freund Iselin den von der Welt Verhöhnten und Mißhandelten vor Verzweiflung rettete, fallen Pestalozzi’s erste schriftstellerische Arbeiten, in welche er die Gefühle seines Herzens, wie den reichen Gewinn seiner Kämpfe und Erfahrungen niederlegte und welche für den großen Zweck seines Lebens die herrlichsten Früchte trugen.

Der Mann, der seit Jahren kaum ein Buch in die Hand bekommen und kaum eine Zeile ohne Schreibfehler zu Stande zu bringen vermochte, wobei er einst, von Lavater darauf aufmerksam gemacht, ausgerufen haben soll: „Das ist ein Puder auf den Kopf; der Kopf ist die Hauptsache; Puder kann man in jedem Kramladen kaufen,“ begann in seiner Hülfsbedürftigkeit, von einem richtigen Instinct geleitet, seine schriftstellerische Thätigkeit mit den „Abendstunden eines Einsiedlers“, einer kurzen, aber inhaltsvollen Reihenfolge großer Anschauungen und Gedanken, die zuerst in Iselin’s „Ephemeriden“ erschien. Hierauf folgte das Volksbuch „Lienhard und Gertrud“, eine Schrift, die Pestalozzi’s Namen fast durch ganz Europa trug und in weiten Kreisen wirkte.

Er wollte durch diese einfache schweizerische Dorfgeschichte, in der er sein erstes Wort an die Armen und Verlassenen im Volke, vorzugsweise an die Mütter des Landes, als die von Gott selbst bestellten ersten Erzieherinnen der Jugend, richtete, eine von der wahren Lage des Volkes und von seinen natürlichen Verhältnissen und Bedürfnissen ausgehende bessere Volksbildung begründen. Keine seiner zahlreichen spätern Schriften kann sich sowohl nach Inhalt und Darstellung wie hinsichtlich des Erfolges mit dem Volksbuche „Lienhard und Gertrud“ messen.

Während dessen hatte sich Pestalozzi’s äußere Lage immer mehr verschlimmert. Der Besitz seines Landgutes kostete ihm jährlich große Summen und trug ihm so viel wie nichts ein. Da brach die französische Revolution los. Ihre Wirkungen ergriffen bald auch sein Vaterland. Die Revolutionsheere drangen in dasselbe ein, die Schweiz ward in eine untheilbare Republik verschmolzen, an deren Spitze fünf Directoren standen; unter ihnen auch Le Grand, ein Freund Pestalozzi’s. Durch seinen und den Einfluß der edlen Minister Stapfer und Renger wurden Pestalozzi in der neuen Republik einträgliche Stellen angeboten. Er schlug sie in richtiger Erkenntniß seines Mangels an Geschäftsbefähigung und praktischer Tüchtigkeit aus und wiederholte den Freunden sein schon früher gesprochenes Wort: „Ich will Schulmeister werden!“

Durch den Widerstand gereizt, welchen die vier Urcantone der Schweiz der neuen helvetischen Regierung entgegensetzten, sandte Frankreich seine Revolutionsheere in die verborgenen Alpenthäler, wo sie sengten, raubten, mordeten und dabei auch im September 1798 Stans, den Hauptort Unterwaldens, verbrannten. Ein schreckliches Elend war dessen Folge. Schaaren vater- und mutterloser Kinder irrten verlassen und ohne Obdach umher, und die obengenannten drei Männer an der Spitze der Regierung, Le Grand, Stapfer und Renger, sandten mit richtigem Blick die zwei großen Heinriche der Schweiz, Heinrich Zschokke und Heinrich Pestalozzi, jenen als Regierungscommissar in die Urcantone, diesen als Schulmeister in das unglückliche Stans.

Die Regierung hatte Pestalozzi für den Zweck des zu errichtenden Waisenhauses das Gebäude des Klosters der Ursulinerinnen angewiesen, das aber weder ausgebaut, noch zur Aufnahme einer ansehnlichen Zahl von Kindern eingerichtet war. Die armen Waisen drängten sich in beträchtlicher Anzahl von allen Seiten herzu, ehe noch Zimmer, Küche, Betten in Ordnung waren. In einem kleinen Gemach, durch dessen zertrümmerte Fenster das rauhe Herbstwetter schlug, mußte unser Held, nur von einer Haushälterin begleitet, sein Werk beginnen.

Doch wie unbedeutend war dieser regellose Zustand gegen die grenzenlose Verwilderung der Kinder selbst, die mit Ungeziefer beladen, wie abgezehrte Gerippe, gelb, grinsend, einige voll kühner Frechheit, des Bettelns, Heuchelns, Lügens und aller Falschheit gewöhnt, einige vom Elend niedergedrückt, voll träger Unthätigkeit, sich täglich mehrten und von denen kaum eins das A-B-C kannte! Und – ehe das Frühjahr kam, kannte man diese Kinder nicht wieder. Sie waren wirklich zu Menschen, zu frohen, glücklichen, dankbaren Menschen umgewandelt worden durch die Kraft und Ausdauer, die fast übermenschliche Aufopferung einer Liebe, die sich selbst über ihrem Werke ganz vergaß und bei Tag und Nacht mit Vater- und Muttertreue über den Kindern waltete.

Der Grundgedanke, der Pestalozzi bei seinem „Pulsgreifen der Kunst, die er suchte“, leitete, war die Uebertragung des vollen Segens der häuslichen Erziehung auf die öffentliche, des Segens der Wohnstube auf die Schulstube. Erhebend und rührend ist, was er über sein Verhältniß zu seinen Kindern an Geßner schreibt: „Ich war vom Morgen bis zum Abend allein in ihrer Mitte. Alles, was ihnen an Leib und Seele Gutes geschah, ging durch meine Hand. Jede Hülfe, jede Handbietung in der Noth, jede Lehre, die sie erhielten, ging unmittelbar von mir aus. Meine Hand lag in ihrer Hand, mein Auge ruhte auf ihrem Auge, meine Thränen flossen mit den ihrigen und mein Lächeln begleitete das ihrige. Sie waren außer der Welt, sie waren außer Stans, sie waren bei mir, und ich war bei ihnen. Ihre Suppe war die meinige, ihr Trank der meinige. Ich hatte nichts, ich hatte keine Haushaltung, keine Freunde, keine Dienste um mich her, ich hatte nur sie. Waren sie gesund, ich stand in ihrer Mitte, waren sie krank, ich war an ihrer Seite. Ich schlief in ihrer Mitte. Ich war am Abend der Letzte, der in’s Bett ging, und am Morgen der Erste, der aufstand. Ich betete und lehrte noch im Bett mit ihnen, bis sie einschliefen. Alle Augenblicke mit Gefahren einer doppelten Ansteckung umgeben, besiegte ich die beinahe unbesiegbare Unreinlichkeit ihrer Kleider und ihrer Leiber.“

Als die von den Oesterreichern geschlagenen und zurückgedrängten Franzosen die Klostergebäude für ihre zahlreichen Verwundeten als Militärhospital in Beschlag genommen hatten, mußte Pestalozzi 1799 alle seine armen lieben Pflegebefohlenen entlassen, nachdem er sie mit Geld, Wäsche und Kleidern versorgt hatte. Herzzerreißend war der Abschied der Kinder von dem geliebten Pflegevater. Sie hingen sich an seine Arme, küßten unter Thränen seine Hände und konnten nur mit Mühe bewogen werden, in ihre verschiedenen Heimathen zurückzukehren. Er selbst ging erschöpft und gebeugt in den Badeort Gurnigel in den Berner Alpen, um seine angegriffene Gesundheit wieder herzustellen, und von dort nach Burgdorf, wo er anfangs unter großen Entbehrungen in einer Winkelschule den in Stans fallen gelassenen Faden seines Unterrichtes wieder aufnahm, wobei er, alle Theorie und fremde Erfahrung gering achtend und von der Anschauung als Grundlage ausgehend, bemüht war, die Anfänge des Unterrichtes zu höchst möglichster Einfachheit und in solche naturgemäße Form zu bringen, welche die Kinder vom ersten Schritte allmählich sicher zu den weiteren führen mußte.

[566] Im Jahre 1800 wurde Pestalozzi von der helvetischen Regierung das damals freistehende Schloß zu Burgdorf am Eingang des Emmenthals eingeräumt; hier begründete er mit mehreren jungen Lehrern zunächst seine Erziehungsanstalt, der bald von allen Seiten Zöglinge zuflössen. Mit seinen Gehülfen lehrte hier Pestalozzi nicht aus Büchern, sondern aus den in ihnen selbst erzeugten Bildungs- und Lehrmitteln. Ihr großes, immer offenes Buch war die sie umgebende Natur und der im Menschen waltende, in Sprache, Zahl und Form sich offenbarende Geist. Später erst entstanden aus den durch solchen Unterricht gesammelten Grundsätzen und Erfahrungen die ersten Versuche einer Anschauungslehre der Sprache, der Zahl und des Raumes (der Form und Größe) in den ersten Pestalozzi’schen Anschauungstabellen und Elementarbüchern.

Ueber die Anwendung dieser Grundsätze giebt ein mit eines Lehrers Hülfe auf dem Schlosse zu Burgdorf geschriebenes Buch Pestalozzi’s „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt“ nähere Auskunft, sowie das 1803 erschienene „Buch der Mütter“. Das erstere namentlich ist ein Geisteskind, welches, obwohl ganz anders geartet, als das Buch „Lienhard und Gertrud“, doch als Volksbuch in gewisser Hinsicht ein Seitenstück zu diesem bildet. Es enthält eine am Neujahrstag 1801 begonnene Reihe von Briefen an seinen Freund Geßner in Bern, in denen er die Kunst der Veredlung des Volkes in die Hand der Mütter legen und den Versuch machen wollte, diesen Anleitung zu geben, wie sie ihre Kinder selber lehren könnten. Denn in der That galt ihm sein jetziges Erziehungshaus, wie alle Erziehungsanstalten überhaupt, nur als Nothbehelf für die mangelnde Erziehung des Elternhauses.

In seinem Hause war auch wirklich Pestalozzi die belebende Seele. Alle Glieder desselben standen ihm gleich nahe. Nicht blos die Kinder, auch die Lehrer nannten ihn Vater und hörten aus seinem Munde das trauliche Du. Mit frohem Gesicht und offenster Freundlichkeit gegen Jeden wandelte er in seinen guten Stunden im Hause, in den Lehrzimmern unter der fröhlich thätigen Jugend umher, mit Diesem oder Jenem ein paar Blicke oder Worte wechselnd. Er trat während der Unterrichtszeit bald in die eine, bald in die andere Classe auf einige Augenblicke ein, ohne sich übrigens lange darin aufzuhalten, denn er wußte, daß er seinen Gehülfen vertrauen konnte, die seine Freunde waren.

Nach dem Abtreten der helvetischen Regierung beschloß jedoch der [567] neueingesetzte Große Rath von Bern, daß das Schloß von Burgdorf – über dessen Sicherung zu seinen Erziehungszwecken Pestalozzi in seiner Harmlosigkeit versäumt hatte, sich von der helvetischen Regierung die nöthigen gerichtlichen Bürgschaften, die man ihm damals nicht verweigert hätte, geben zu lassen – der Sitz eines Oberamtmanns werden sollte. Pestalozzi ward dadurch in die traurige Nothwendigkeit versetzt, die ihm so lieb gewordene Wiege seines neuaufblühenden Werkes zu verlassen.

Zunächst zog er nun im Jahre 1804 nach dem wenige Stunden entfernten ehemaligen Klostergebäude zu Münchenbuchsee, das er aber sammt dem größern Theil seiner Zöglinge alsbald an Wellenberg in Hofwyl überließ, um selbst eines der ihm von der Waadtländer Regierung angebotenen Schlösser, das alte Yverdon oder Iserten, am Südende des Neuenburger Sees, zum Sitze seiner pädagogischen Thätigkeit zu erwählen.

Düster freilich waren die Räume des von Karl dem Kühnen erbauten alten burgundischen Schlosses, Raben und Dohlen nisteten in den vier dicken Thürmen desselben, deren Mauern von dunkelgrünem Epheu dicht umsponnen waren. Kaum für das Unentbehrlichste war die neue Anstalt eingerichtet. Die zwei großen Schlafsäle für die Zöglinge waren nicht einmal gedielt. Besondere Zimmer für sich hatten die Lehrer nicht, sondern mußten den Tag über im Getümmel irgend einer Classe an ihren Stehpulten arbeiten. An dem alten Brunnen, der sich mitten im großen Schloßhof von alten Linden umgeben befand, wurden des Morgens im Sommer und Winter lange hölzerne Röhren gelegt, die rechts und links von der Reihe der Knaben umstanden wurden, damit sie sich mit dem durch einen Hahn zulaufenden Wasser den Rest der Schläfrigkeit aus den Augen wuschen.

Das Schloß zu Yverdon oder Jserten war also der Schauplatz, wo die bald wieder vereinigte Genossenschaft des Pestalozzi’schen Erziehungshauses im Sommer 1805 ihr neues Leben begann und in einer Reihe von Jahren fortsetzte, während welcher dieses Haus, bei eifrigster Thätigkeit und Regsamkeit im Innern, auch nach außen dem Anschein nach eine glänzende Blüthe zeigte. Es erhielt, namentlich auch durch die Empfehlungen Fichte’s in seinen Reden an die deutsche Nation, und Herbart’s, bald europäischen Ruf und ward von Zöglingen aus allen Ländern besucht. Von allen Weltgegenden her kamen Lehrjünger, die sich auf Monate oder Jahre, und zum Theil sehr angesehene Fremde, die sich tagelang dort aufhielten.

Als im Jahr 1814 der König von Preußen Friedrich Wilhelm der Dritte nach Neuchâtel kam, war Pestalozzi sehr krank. Dennoch mußte ihn einer seiner Schüler und späterer Unterlehrer, Ramsauer, zum König begleiten, damit er ihm danken könne für seinen Eifer um das Volksschulwesen, den dieser insbesondere durch die Sendung so vieler Eleven nach Yverdon bethätigte. Auf der Hinreise sank Pestalozzi mehrere Mal in Ohnmacht und mußte aus dem Wagen gehoben und in ein Haus gebracht werden. Da wollte ihn Ramsauer bewegen zurückzukehren, er aber erwiderte: „Nein, schweig’ davon! Ich muß den König sehen, und sollt’ ich auch darüber sterben. Wenn durch meine Gegenwart nur ein einziges Kind in Preußen einen bessern Unterricht empfängt, so bin ich reichlich belohnt.“

Freilich vernachlässigte Pestalozzi bei dieser edelsten Aufopferung nicht selten sein Haus und ward bei der vielen Aufmerksamkeit, die er Fremden widmete, gegen die Lehrer und Zöglinge der Anstalt oft zum Schuldner.

Mit dem Jahre 1810 begannen die schon längere Zeit im Stillen sich vorbereitenden Irr- und Wirrsale des Pestalozzi’schen Hauses zu Tage zu treten. Die Unordnung in der Führung der Hauswirthschaft, welche Pestalozzi zu bewältigen keine Fähigkeit und Kraft hatte, nahm überhand; unter den Lehrern der Anstalt herrschten Reibungen, Zerwürfnisse, gegenseitige Eifersucht, bis zuletzt eine Spaltung in zwei Heerlager eintrat und schließlich Streit und Erbitterung sich so steigerten, daß Pestalozzi sich 1825 genöthigt sah, seine Anstalt ganz aufzulösen, die hieraus von einem seiner Lehrer, dem früheren Pfarrer Riederer, neu begründet wurde, und sich als achtzigjähriger Greis zu seinem einzigen Enkel auf den Neuenhof zurückzuziehen, wo er sich mit Schriftstellerei beschäftigte, die Erzählung „Lienhard und Gertrud“ fortsetzte und vollendete und 1826 als dreizehnten Band seiner sämmtlichen Schriften seinen „Schwanengesang“ veröffentlichte. Derselbe enthält ein Gemisch von Klagen über das Mißlingen seiner Lebensbestrebungen und neben langen, einförmigen Erörterungen über seine Erziehungs- und Unterrichtsgrundsätze auch manches Richtige, Rührende und Ergreifende, wobei er den Kern seines Wirkens von der Schale zu sondern und sich des Bleibenden und Unvergänglichen in seinem Lebenswerke zu freuen weiß. Gleichzeitig erschien von ihm, aber nicht als Bestandtheil seiner sämmtlichen Schriften, sondern in anderem Verlage, ein Buch unter dem Titel: „Meine Lebensschicksale als Vorsteher meiner Erziehungsanstalt in Burgdorf und Iserten.“ Hier ist sein Blick getrübt, sein Herz erbittert und sein Urtheil über die Genossen seiner Unternehmung vielfach unbillig und ungerecht.

Mit Anfang des Jahres 1827 erkrankte Pestalozzi. Am 15. Februar theilte er dem Pfarrer Steiger zu Birr, wohin der Neuenhof gehörte, mündlich seine letzten Willenserklärungen mit und ließ sich dann nach Brugg fahren, wo er am 17. Februar starb. In Birr vor dem Schulhause ward er unter dem Geleite und Gesang der Lehrer von den umliegenden Dörfern und ihrer Schulkinder in die schneebedeckte Erde versenkt. Als später die Aargauer Regierung an der Stelle des alten Schulhauses ein neues aufführen ließ, wurde der Platz, wo Pestalozzi ruhte, mit einem Gitter eingefriedigt und dahinter die Hauptseite des neuen Schulhauses zum Denkmal Pestalozzi’s gestaltet, welches über dem Brustbilde desselben die Worte enthält: „Unserem Vater Pestalozzi.“

Im Jahre 1846 begingen Tausende von Lehrern und Erziehungsfreunden in allen Gegenden Deutschlands und der Schweiz das hundertjährige Geburtsfest Pestalozzi’s, als des Vaters der neuern Pädagogik, deren edle Früchte größtenteils aus dem von ihm gestreuten Samen erwuchsen und zum Gemeingute der Menschheit wurden. Die zahlreichen Pestalozzi-Stiftungen, die seitdem entstanden, zeugen von der dauernden Verehrung der Nachwelt gegen den großen Meister und Reformator auf dem Gebiete des Unterrichtes und der Erziehung.

Die bahnbrechenden Verdienste Pestalozzi’s, so wie der Umschwung, welchen er durch Lehre und Beispiel auf jenem Gebiete veranlaßte, können nur dann vollständig gewürdigt werden, wenn man die verkehrten Grundsätze und den grauenhaften Schlendrian der alten Schule mit seiner Methode und deren Leistungen vergleicht. Das damit auf’s Engste verwachsene innerste Wesen Pestalozzi’s, welches alle Schwächen und Fehler dieser großartigen Natur bei weitem überragt, zeichnet uns einer seiner langjährigen Freunde, der verstorbene Dr. Blochmann in Dresden, der acht Jahre als Lehrer an seiner Anstalt zu Yverdon verweilte und treffliche Züge aus dem Bilde seines Lebens und Wirkens uns überliefert hat, mit den treffenden Worten: „Ich habe wenig Menschen kennen gelernt, aus deren Lebensmitte ein so reicher Strom von Liebe floß, als aus seinem Herzen. Die Liebe war recht eigentlich sein Lebenselement, der unversiechbare göttliche Trieb, der von Jugend auf all’ seinem Streben und Wirken Richtung und Ziel gab. Mit dieser seiner Liebe, in ihrer Aufopferungskraft und Uneigennützigkeit, war in ihm ein hoher Grad von Anspruchslosigkeit, Bescheidenheit und Demuth verbunden, und dieser letzteren stand in seinem Gemüthe ein Heldenmuth zur Seite, wie solcher in gleicher Kraft in keines Manschen Seele, der nicht demüthig ist, zur Erscheinung kommt.“

Das große Verdienst Pestalozzi’s besteht hauptsächlich darin, daß er „ein Grundgesetz für den Unterricht fand und es für die gesammte Erziehung ahnte; daß er zuerst, und er allein, eine Methode begründete, von welcher erst die eigentliche Wissenschaft des Unterrichts datirt.“ – Aller Unterricht gründet sich bei ihm auf Anschauung. Diese ist ihm die Grundlage aller Erkenntniß. Von ihr muß alle Lehre ausgehen und dahin wirken, daß das Kind jeden Gegenstand, der ihm zur Anschauung und durch diese zum Bewußtsein gebracht wird, als Einheit in’s Auge fasse, daß es die Form eines jeden Gegenstandes, d. h. sein Maß und sein Verhältniß, kennen lerne, daß es endlich mit dem ganzen Umfang der Worte und Namen aller von ihm erkannten Gegenstände vollständig vertraut werde. Diese seine Methode hat sich während des ersten Zeitraumes seiner erziehenden Wirksamkeit (in Staus) subjectiv ausgeprägt und in seiner Persönlichkeit concentrirt. Sein ganzes Sinnen und Streben war darauf gerichtet, die Segnungen der Wohnstube zu Segnungen der Schulstube zu machen. Im zweiten Zeitraume des Entwickelungsganges der Pestalozzi’schen Methode (Burgdorf, Yverdon) tritt die subjective Seite derselben [568] mehr zurück und die objective bildet sich einseitig aus. Die Erziehung geht mehr in Unterricht über, die Bildung wird vorherrschend intellektuell. Von Haus aus ein Gegner des Katechismus, gerieth Pestalozzi, dem anfangs das Leben mit seinen frischen Eindrücken Alles galt und der das Bücherwesen beim Unterricht haßte, später in die auffallende Verirrung, den Unterricht mechanisieren zu wollen und auf die gedruckten Methodenbücher, Anschauungstabellen etc. den größten Werth zu legen.

Zwei Mangel sind es besonders, die Pestalozzi’s System anhaften. Einmal übersieht er, daß Zahl, Form, Wort die Urformen des Denkens nicht erschöpfen. Der Mensch hat auch Farbensinn, Ortssinn, Thatsachensinn und jedem dieser Sinne entsprechende Eigenschaften. Doch läßt sich dieser Mangel leicht beseitigen, weil der Geist der Pestalozzi’schen Methode auf die Behandlung aller Gegenstände ohne Schwierigkeit übertragen werden kann. Der andere, von Pestalozzi selbst gefühlte und ausgesprochene Mangel seines Systems bestand darin, daß er neben den Kenntnissen die Fertigkeiten, neben dem Wissen das Können nicht gehörig berücksichtigte. Aber die Fertigkeiten, von deren Besitz Können und Thun abhängt, geben sich ebenso wenig von selbst, wie Einsicht und Kenntniß. Auch sie müssen durch Uebung erwachsen, auch für sie muß ein A-B-C der Thätigkeit erfunden werden, das von den einfachsten Aeußerungen der physischen Kräfte, die ja die Grundlage aller menschlichen Fertigkeiten enthalten, ausgeht und so die Vorbedingung einstiger höchster Vollkommenheit zu Wege bringt. Hier nun trat Friedrich Fröbel ergänzend ein, indem er lehrte, zur Arbeit durch Arbeit, zur Thätigkeit durch Selbstthätigkeit zu erziehen. So schuf er die genetisch entwickelnde, überall an das praktische Leben anknüpfende Methode in seinen Spiel- und Beschäftigungscirkeln, seinen Kindergärten und Erziehungsgrundsätzen überhaupt. Wie auf dem Gebiete der Volksschule die Gedanken Pestalozzi’s in Diesterweg ihren namhaftesten Vertreter, Verbreiter und Fortbildner gefunden haben, so hat Fröbel Pestalozzi’s Ideen auf dem ihnen eigenthümlichen Gebiete des Hauses und der Kinderstube am glücklichsten vervollständigt und ergänzt. Die Aufgabe der Gegenwart aber ist es recht eigentlich: „den Waldboden zu schaffen, auf dem die in Haus, Kindergarten und Schule gezogenen Stecklinge die reichste, beste Nahrung finden, damit aus diesen Zöglingen Menschen werden, wie sie das Ideal der erziehlichen Bestrebungen Pestalozzi’s, Fröbel’s, Diesterweg’s, jenes großen Dreigestirns von Menschenbildnern, waren; Menschen,“ wie Wichard Lange sagt, „aus einem Guß, mit einer organischen Weltanschauung und einer einheitlichen, grundsatzgemäßen charaktervollen Wirksamkeit.“



Anmerkungen (Wikisource)

  1. vergl. Liste von Erdbeben in der Schweiz; Vorlage: 19. December 1755
  2. Felix Grebel (1714–1787), Vorlage: Gorbel
  3. Vorlage: Nachlässigkeiten