Bettina’s Theetisch

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Titel: Bettina’s Theetisch
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aus: Die Gartenlaube, Heft 35, S. 552–554
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Bettina’s Theetisch.

Als ich blutjung war, kaum sechszehn Sommer zählend, betrat ich zum ersten Mal das Arnim’sche Tusculum, jenes abgelegene, romantische Haus im Berliner Thiergarten, dessen Belétage die Bettina von Arnim, die bekannte Verfasserin von „Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde“, und ihre Töchter zu einer idealen Dichterwohnung umgestaltet hatten. – Es giebt ein Märchen von einem Studiosus, der bei einer alten Fee eingeführt wird, welche eine wunderlich phantastische Welt umgiebt; dem Alltagsleben fühlt er sich vollständig entrückt, sobald er die Schwelle überschritten hat, und zwischen den seltsamen Geräthschaften, Spiegeln und Gemälden wandelt. Die Fee, immer noch mit einem Nimbus umgeben, fordert von ihrem Adepten blinde Unterwürfigkeit und Bewunderung, obgleich ihre Locken bleichten, ihre Sprüche machtlos wurden, ihre „Gespräche mit Dämonen“ im Winde verklangen und die großen Geister, durch deren Umgang sie berühmt geworden, längst verstummten.

An dieses Märchen dacht’ ich, so oft es mich unwiderstehlich nach der Thee-Tafelrunde zog, wo berühmten und unberühmten Rittern des Geistes der chinesische Trank von den Töchtern des Hauses auf das Anmuthigste gereicht ward. Fast immer fühlte man sich in dieser Atmosphäre angenehm und angeregt berührt; die jungen Wirthinnen besaßen eine hinreißende Liebenswürdigkeit für ihre Gäste. Das anmuthig schalkhafte „Gethue“ von Marialla Fitchersvogel – wie die Jüngste auf dem Titelblatt ihrer Märchen sich nannte – sowie die Eleganz der pikanten Weltdame, der zweiten Tochter, waren Magnete seltener Art. Die älteste dieser interessanten Schwestern, schon seit mehreren Jahren verheiratet, war im Theezimmer nur im Bilde anwesend. Steinle aus Frankfurt hatte ihren ausdrucksvollen Kopf mit der Adlernase in einem Lorbeerkranz portraitirt; zuerst hielt ich das Bild für eine Leonore Sanvitale.

Dieser Cirkel, dessen Worten mein junges Ohr begierig lauschte, wußte dem Unbedeutendsten Reiz abzugewinnen, aber ebenso wurde das Bedeutendste ganz unbarmherzig aus Laune, aus Widerspruch und Willkür seines Reizes beraubt und lachend zu den Todten geworfen. Die Paradoxen waren vorherrschend; Achim von Arnim’s Wurzelmännchen, Onkel Clemens’ Kobolde schienen unsichtbar mit am Theetisch zu sitzen, und oft nach solch’ einem Abend parodirte ich lachend den Macbeth: „ich hab’ zu Tisch gesessen mit Gespenstern“ – jene waren freilich lieblicher Art.

Bettina’s leichthin ausgesprochene Verachtung gegen die meisten Kunst- und Dichterautoritäten aller Länder und aller Zeiten war beispiellos. Mit Ausnahme des Zeus-Goethe, dem sie einen Götzendienst weihte, schlau berechnend, daß sie durch ihn berühmt werden würde, sagte sie von den meisten classischen und modernen Dichtern: „Der kann mir gestohle werden.“ Nur Petöfi, dem Ungar, ließ sie Gerechtigkeit widerfahren. Die ganze Weltgeschichte galt ihr als „Plunder“, wie sie es schon im Briefwechsel mit der Günderode gesteht; eine Zeit, in der sie nicht existirt hatte, war ihr gleichgültig. Daß sie sich in so eigensinnigen Vorurtheilen verstricken konnte, ist eigentlich räthselhaft, da sie doch einen so großen Sinn für das Schöne und eine so lebhafte Anschauung hatte.

Oft schlugen auch Abneigung und Widerwille ganz plötzlich in Liebe und Versöhnung bei ihr um; dann aber auch wehe dem, der nicht mit geliebt, sich in ihren Widerspruch nicht gefunden hätte! Auf eine meiner nahen Verwandten, eine damals schöne junge Frau, war sie einst, vor langen Jahren, ganz unverhohlen eifersüchtig gewesen; weshalb? weil einer unser berühmten Gelehrten, mit welchem Bettina in einem überaus geistreichen Verkehr stand (kürzlich feierte derselbe seine goldene Hochzeit mit der Wissenschaft), jener schönen jungen Frau eine leidenschaftliche Verehrung zollte. Bettina konnte einen kleinen Aerger darüber nicht unterdrücken, und obgleich die junge Dame ihr ganz unbekannt war, so konnte sie nach gewohnter Weise doch nicht unterlassen, kleine boshafte Hiebe auszutheilen, so oft von jener die Rede war.

Eines Abends aber trat die Dame bei Rahel Varnhagen ein, um deren Theetisch sich der interessanteste Kreis, darunter Bettina und jener junge Professor, versammelt hatte. Ganz überrascht von der Anmuth ihrer Rivalin, betrachtete Bettina sie ein Weilchen und rief ihr dann zu: „Also, so sehe Sie aus, kleine G…le? Na, da kann ich’s dem verfluchte Kerl, dem R., nicht verdenke, daß er von mir fortgelaufe ist, wie die Laus vom todte Jude.“

Seitdem blieb sie ihr gewogen. Lange nach diesem Begegnen – Bettina war indeß fünfzig Jahre alt geworden – trifft sie die frühere Nebenbuhlerin einmal unter den Linden und redet sie mit den Worten an: „Sehe Sie mir nichts an? Ich hab’ mich soeben in eine Studente verliebt.“ Sie sprach von Philipp Nathusius, der in der Begeisterung über den „Briefwechsel mit einem Kinde“ an sie geschrieben und dann ihre Bekanntschaft gemacht hatte. An jenen Brief reihte sich die „Correspondenz zwischen Ilius Pamphilius und der Ambrosia“.

Sehr ergötzlich ist ihr erstes Begegnen mit Leopold Ranke. Der Rahel’sche Salon führte gleichfalls diese beiden Feuergeister zusammen. „Sie sind der Ranke?“ fragte Bettina, indem sie gerade anfing eine Weintraube zu essen; „komme Sie und essen’s mit mir die Traub,“ worauf Ranke die „Traub“ mit aufessen half. Nach beendeter Soirée begleitete der neue Bekannte die berühmte Frau nach Hause, alsdann brachte sie ihn wieder den ganzen Weg zurück, darauf wiederum er die Bettina bis zu ihrer Wohnung, sie wieder den Ranke bis zu der seinigen, und so bis zur Morgendämmerung. „Dabei haben wir die schönsten Dinge gesprochen, die uns je die Begeisterung eingegeben,“ gestanden Beide in Rückerinnerung der originellen Nachtpromenade.

Auch mit Fürst Pückler-Muskau traf Bettina bei Rahel zusammen. Wir wissen, daß diese beiden außergewöhnlichen Persönlichkeiten viel miteinander verkehrten, correspondirten, sich gegenseitig anzogen und ebenso oft abstießen, mit ihren Gedanken ein kühnes Federballspiel trieben, oft Jahre lang sich ignorirten, dann wieder den alten Ton neckischen Humors, dithyrambischer Ergüsse anstimmten und somit trotz alledem befreundet blieben. Der scharfsinnige, geistreiche „Verstorbene“ nannte sie Orlanda und verstand darunter „rasende Orlanda“, da sie rastlos, immer athemlos, immer stürmisch aufgeregt war. Sie beklagte sich anfangs fortwährend über den undankbaren Pückler, der selbstständiger blieb, als sie es gewöhnt war, „er glitte ihr unter den Händen fort, es wäre kein Verlaß auf ihn“. Nach dem lebendigsten Verkehr, den Beide während ihrer ersten Bekanntschaft gehabt, verließ Fürst Pückler Berlin, und Bettina erzählt von dem Abschied: „Gestern Abend kommt der verfluchte Kerl, der Pückler, und macht mir weis, er würde bis ein Uhr bleibe, dann habe er den Wagen bestellt; gleich darauf aber fährt die Kutsch vor, und er sagt, er müsse abreisen. Und ich hatte ihm eben nur noch die schönste Anekdote von Goethe erzählt und ihm zwölf nackte Figure von meine Zeichnunge geschenkt! Da lacht’ ich ihm denn in’s Gesicht und sagte ihm, sonst würde ich bei seinem Abschied geweint haben.“

Beide zusammen zu sehen, war ebenso interessant, als sie zu hören. Glich sie in ihrem nachlässigen schwarzen Gewande einer nordischen Sibylle, so war er immer noch der vollendete Salonherr, der sich, wie sonst, mit feiner Koketterie zu kleiden verstand und dessen graciös ungezwungene Bewegungen ihn bedeutend jünger erscheinen ließen, als er war. Noch war er nicht, wie jetzt, seinem Aeußern nach, ein schöner orientalischer Magier mit silberweißem Bart, doch viel milder war er bereits geworden, der sonst gefürchtete, sarkastische Grandseigneur; von seinen Lippen floß echte, humane Weisheit bei jovialster Lebensanschauung, während Bettina launischer, unnahbarer, wortkarger geworden war. Der Maler Wilhelm Hensel, der sich seiner höchst interessanten Albums wegen scherzhaft den Albummler nannte, zeichnete damals den Fürsten und seine Gönnerin. Beide Portraits sind ganz vortrefflich, besonders charakteristisch die nornenhafte Bettina. Sie schrieb unter ihre Zeichnung: „Anführer sei mir stets ein Gott und nie ein Mensch.“ Pückler unterzeichnete mit den Worten: „Vorwärts durch das Leben, vorwärts durch den Tod, und daher Beides jederzeit willkommen.“ Glücklicher Weise zog bis jetzt Asrael, der Todesengel, an dem vierundachtzigjährigen merkwürdigen Manne vorüber. Einst erzählte er, Graf Saint Germain habe ihn als ganz kleinen Knaben in Muskau gesehen und ihm ein sehr langes Leben prophezeit.

Welch’ eine Meinung Bettina selbst und auch die Ihrigen von der Weltberühmtheit und dem politischen Einfluß der Mutter hatten, beweist folgendes Geschichtchen.

[553] In einem mir befreundeten Kreise war beschlossen worden, das Lustspiel „der König von sechszehn Jahren“ aufzuführen; mir war die Rolle Ludwig’s des Fünfzehnten zu Theil geworden, und nicht wenig freute ich mich, in der Generalprobe in einem reichen Rocococostum von rothem Sammet zu erscheinen. Ich konnte dem Wunsche nicht widerstehen, so besternt und bestickt wie ich war, dem Fräulein Fitchersvogel meine Huldigung darzubringen, und droschkete nach beendigter Probe, einen Mantel umgeworfen, Galoschen über die Schnallenschuhe, in den Thiergarten hinaus. „Melden Sie,“ flüsterte ich dem Diener zu, der mich erkannte, „den König von Frankreich.“ Einverstanden schmunzelte er, meldete jedoch nicht „den König“, sondern der Politik des Tages folgend den Kaiser von Frankreich, ohne sich durch meinen gepuderten Kopf stören zu lassen.

Ich blieb lange allein, so daß ich nicht wie mein Vorgänger Ludwig der Vierzehnte sagen konnte: j'ai faili attendre (ich hätte beinahe gewartet), sondern ich wartete wirklich. Es rauschte in den Nebenzimmern des großen Saales, in dem ich mich befand, Thüren gingen, leichte Schritte näherten sich, entfernten sich wieder, endlich trat Marialla etwas feierlich ein. „Ach, Sie sind es, Wildfang!?“ rief sie lachend; dann aber setzte sie ganz ernsthaft und wie sich von selbst verstehend hinzu: „wir glaubten nicht einen Augenblick anders, als daß Louis Napoleon incognito hier sei, um der Mutter ein Staatsgeheimniß anzuvertrauen; ist ihr ja oft Aehnliches passirt!“

Der Traum ihres Lebens war Goethe ein Denkmal zu setzen, zu dem sie selbst das Modell componirt hatte, welches im Balconzimmer ihrer Berliner Wohnung stand. Leider ist dieser Traum nicht so zur Wahrheit geworden, wie sie es ersehnte. Es wäre ihr zu gönnen gewesen, denn es war nicht Eitelkeit, welche sie zu diesem Werke antrieb, sondern wirkliche Begeisterung, und es ist keine Kunstfaselei, zu behaupten, daß jenes Modell die Eingebung eines Genius sei. In der That, die zeusartige, sitzende Statue, welcher eine breite, umfangreiche Terrasse zum grandiosen Piedestale dient, ist von unbeschreiblicher Wirkung selbst in so kleinem Maßstabe, und würde das nüchterne Standbild in Frankfurt glänzend überstrahlen. Zeichnen sich die Piedestalreliefs des letzteren durch die unbedeutendste Auffassung aus, so sind diejenigen Bettinens von übersprudelnder Genialität und, obgleich nur skizzenhaft angedeutet, der Ausführung eines gewandten Meisters würdig. Namentlich kühn und poetisch ist das eine, wo Goethe als Jüngling, eine nackte Idealgestalt, den Musen trunken in die Arme taumelt. „Hier ist er besoffen, des göttlichen Nektars voll,“ erklärte an jenem Abend die reich Begabte.

Nur die schmächtige, fragwürdige Psyche, diese dem ersten Blick des Beschauers unbegreifliche kleine Puppe, welche vor dem olympischen Dichter steht, „das Kind“, müßte weggelassen werden. Diese schadete auch damals der Aufnahme im Publicum ungemein; man sah in „diesem Kinde“ nur das persönliche Hinzudrängen von Bettina, spottete über diese Theilhaftigkeit an der Unsterblichkeit und erkältete sich auf der Stelle dagegen.

Der Bildhauer Steinhäuser führte bis jetzt nur den thronenden Dichterfürsten aus, der, im Park zu Weimar in einem Gartenhäuschen eingezwängt, gar nicht an seinem Platz ist. Bis zu ihrem Ende hoffte aber Bettina, Friedrich Wilhelm der Vierte, dem sie seit 1848 nicht mehr nahen durfte, werde sich mit ihr versöhnen und alsdann nicht säumen, das Denkmal ausführen zu lassen. Aber ils étaient passés ces jours de fête, wo der König an die neue Diotima schrieb: „Rebenentsprossene, Sonnenumflossene!“

Oft erzählte ein intimer Freund des Hauses, Freiherr von Haxthausen, ein seltsamer alter Herr, der lange im Kaukasus gelebt hatte, prächtige Spukgeschichten und tscherkessische Sagen von wilder hinreißender Schönheit und Volksthümlichkeit. Hermann Grimm, seitdem Marialla’s Gatte, wurde dadurch zu seinen zwei herrlichen Gedichten „die Schlange“ und „Aßly und Kiarem“ (das Liebespaar, das in gegenseitiger Umarmung verbrennt) angeregt. Unbegreiflich, diese beiden Romanzen, in denen echtes, heiliges Feuer glüht, sind ganz unbekannt geblieben und verdienten doch unter dem Schwungvollsten und Reizendsten moderner Poesie genannt zu werden. Varnhagen von Ense besuchte ab und zu den Theecirkel der alten Fee und ihrer jungen Töchter. Während seiner geistreichen, anziehenden Unterhaltung handhabte er eine seine Scheere, mit der er allerliebste Figürchen, Blumenbouquets, Landschaften, auch mitunter ein markirtes Profil in größter Meisterschaft ausschnitt. Kein angenehmerer Gesellschafter als er, zugänglich für Alt und Jung, mittheilend und belehrend. Ranke erschien sehr selten einmal, wenn er auf seinen weiten einsamen Spaziergängen den Thiergarten passirte. Dann scherzte er mit Marialla und dem kleinen Hofe duldsamer Jungfräulein, welchen sie gern um sich versammelte, wie ein possierliches Kind, und vom tiefen Historiker war nichts an ihm zu merken; alle Sprühteufelchen seiner lebendigen Phantasie wirbelten dann um ihn her, selten vermochte man einen davon einzufangen und genau zu betrachten, seine Gedankenblitze zerstiebten knatternd in der Luft, ohne daß man sich nachher auf sie besinnen konnte. Einst fragte er, sich in diesem jungen Kreise quecksilberartig bewegend, nach den verschiedenen Lieblingslectüren der jungen Damen, worauf denn gar sentimentale Geständnisse erfolgten: „Tieck’s Genoveva“, „Lamartine’s Raffael“ etc. Die schalkhafte Marialla war klüger und rief lachend, als die Reihe an sie kam: „Ranke’s Geschichte der Päpste!“ Der Verfasser des berühmten Werkes lachte überlaut, griff nach dem Hut und lief davon.

In den letzten Zeiten vor Bettina’s Ende, dem ein langes sehr schweres Siechthum voranging, traf ich eines Abends – der Thee wurde damals in ihrem eigenen Wohnzimmer genommen – einen freundlichen älteren Herrn, dessen lebhaftes Mienenspiel und einnehmendes Wesen mir auffielen. Trotzdem er fließend deutsch sprach, erkannte ich sofort in ihm den Italiener, Salvodi hieß er. Damals hörte ich den Namen gelassen an, saß dem amüsanten Manne harmlos gegenüber und lachte über seine fein maliciösen Scherze, nicht ahnend, daß ich einige Jahre später nicht einen Augenblick in demselben Zimmer mit ihm geblieben wäre, sondern ihn wie den ärgsten Feind gemieden hätte. Dieser Salvodi, so erfuhr ich lange nachher, war österreichischer Polizeiminister in Venedig, hatte Silvio Pellico dem Spielberge überliefert und unzählige Andere in’s Exil, in die Bleikammern, wohl gar auf das Schaffot geschickt. Wie kam er, den Varnhagen in den Tagebüchern vom Jahre 1851 mit Recht geißelt, wie kam er zu Bettina, die für die Gebrüder Grimm, Hoffmann von Fallersleben und Bruno Bauer Lanzen gebrochen hatte? Es war nur insofern zu erklären, als der Sohn Salvodi’s, Scipione, ein antik römischer Charakter, ein Mensch von Wissen und Gefühl, vom eigenen Vater abgefallen, als Verbannter in Berlin lebte und im Arnim’schen Hause freundschaftlich aufgenommen war. Vielleicht wollte Bettina Bekehrungsversuche mit dem alten Spion anstellen, vielleicht hat sie sogar die Versöhnung zwischen Vater und Sohn herbeigeführt, denn Beide sah ich am selben Abend friedlich nebeneinander. Trotzdem blieb Scipione nach wie vor in der Stadt der Intelligenz. Ist sein Vaterland doch erst seit Kurzem von der Fremdherrschaft befreit! Dieser junge Mann mit dem Falkenblick und der bereits kahlen Stirn hatte im Verein mit Friedmund von Arnim eine höchst merkwürdige Brochure geschrieben: „die Religion der Liebe“. Eine neue, bessere Welt zu schaffen, war ihr gemeinschaftliches Ideal.

Zur Zeit, wo die Manie des Tischrückens durch den Psychographen verdrängt ward, gab es große Versammlungen bei den Arnim’schen Damen, und Jeder sollte mit dem Instrumente experimentiren. Man denke, welch’ ein Unsinn dabei herauskam. Bettina stellte sich, als glaube sie allen Ernstes daran. Auf ihre Frage an den buchstabirenden Apparat: „wie heißt der Geist, der Dir innewohnt?“ setzte sich die Antwort „Mephisto“ zusammen. „Na, da habt ihr’s, Dummköpfe!“ rief sie. Ein ihr verwandter Gardeoberst und ein Abgeordneter des Landtages vermochten nicht ihr spöttisches Lachen zu unterdrücken. Wer aber schildert die betretenen Gesichter aller Anwesenden, als plötzlich der Psychograph sich in Bewegung setzt und buchstabirt: „Geh’ nach Hause, Officiersesel und Kammernarr.“

Gisela Arnim arrangirte oft Spaziergänge nach Charlottenburg, dabei ging es harmlos und anmuthig zu. Vor dreizehn Jahren war Berlin keine Weltstadt, keine Pferdeeisenbahn im Thiergarten, kein solch’ Gewimmel auf Schritt und Tritt, keine Corsofahrten, keine Modetyrannei. Einfach angezogen, einfach frisirt, ein Päckchen Kuchen unter dem Arm, so gingen „die Kinder berühmter Leute“ und ihre Adepten die grünen Alleen entlang nach Muskau’s Kaffeegarten, nachher an den Karpfenteich im Schloßgarten. Neulich kam mir ein Zettelchen aus jener Zeit in die Hand, ein Einladungsbilletchen Gisela’s zu solcher Wanderung in’s Grüne; das sonderbare Format erklärt sie mit der Aufschrift: „Der Brief ist [554] in Form einer Maifahne, die Tintenkleckse sind Frühlingsmücken, es kommt Alles auf den Gesichtspunkt an.“

Zum letzten Male begegnete ich Bettinen im Opernhause, beim zweiten Berliner Gastspiele der Ristori; der italienischen Melpomene galt ihr letzter Enthusiasmus. Sie besuchte sie mit der jüngsten Tochter, welche sogar ein Drama für die schöne Adelaide geschrieben hatte, worin letztere jedoch nicht auftrat, obwohl man es für sie in’s Italienische übersetzen ließ. Von einem zahlreichen Verwandten- und Freundeskreise umgeben, saß Bettina, wie mich dünkt, zum letzten Mal, im Opernhause, und klatschte der Francesca von Rimini lauten Beifall. So steht ihr Bild mir in lebhafter Erinnerung vor Augen.