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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


„Sie sehen doch drüben das rothe Haus?“ fragte der Letztere leise. Fritz nickte, obgleich er aus seiner tiefen Stellung absolut nichts sah, als Himmel und Graben. „Der Lieutenant, den wir ablösten,“ fuhr der Vicefeldwebel fort, „hat mir bestimmt versichert, daß er gestern Nacht in dem Hause gewesen sei und sich in dem Keller ausgezeichneter Rothwein befunden habe. Das Haus liegt in beiderseitigem Schußbereich, und es hat sich wohl Niemand so recht hineingewagt. Wir wollen heute Nacht eine Patrouille dorthin machen und uns ordentlich verproviantiren.“

Der Freiwillige streckte vorsichtig den Kopf aus und warf einen Blick nach dem rothen Hause hinüber. „Herr Vicefeldwebel,“ sagte er schüchtern, „das lohnt ja nicht.“

„Es wird schon lohnen,“ erwiderte derselbe, „halten Sie nur reinen Mund, damit Niemand etwas merkt! Ich werde Sie abholen, sobald ich die Zeit für günstig halte.“ Hiermit glitt er vorsichtig in das Wäldchen zurück und kroch wieder an seinen Platz.

„Was das wieder für Blödsinn ist!“ murmelte der Einjährige verstimmt, als sein schrecklicher Freund sich entfernt hatte. „Gott beschütze einen nur vor seinen Freunden! Vor meinen Feinden will ich mich schon selbst schützen.“ Damit lehnte er sich wieder tief in den Graben zurück, zog aus der hinteren Rocktasche eine total durchnäßte windelweiche Cigarre und versuchte sie anzuzünden.

Sein Nebenmann, ein Unterofficier Lange, sah den vergeblichen Anstrengungen, den Tabak in Brand zu setzen, mit Interesse zu. „Die wehrt sich,“ sagte er gutmüthig nickend, „legen Sie das Ding erst etwas in die Sonne, Herr Freiwilliger!“

Der Einjährige legte seufzend das schwärzliche Kraut auf den trocknen Grabenrand. Lange stopfte eine Pfeife, setzte sie ohne Hinderniß in Brand und reichte sie freundlich dem Freiwilligen, welcher sie, freudig überrascht, dankend annahm und begierig den Dampf einsog. Der Unterofficier rückte ihm näher. „Was sagte der Feldwebel vorhin von Wein?“ fragte er vertraulich.

„Na,“ sagte Fritz, durch die Pfeife verpflichtet, „da Sie es doch ’mal gehört haben, will ich es Ihnen sagen, aber lassen Sie sich um des Himmels willen nichts merken!“

„I Gott bewahre!“

„Der Herr Vicefeldwebel behauptet, in dem rothen Hause da drüben – er zeigte mit der Pfeifenspitze über die Schulter – „liege guter Rothwein, und hat die tolle Idee, heute Abend mit mir da hinüber zu gehen und den Wein herauszuholen.“

Der Unterofficier hatte aufmerksam gehorcht. „Na, ich will nichts gesagt haben,“ sagte er sehr ernst, „aber ich würde mich nicht darauf einlassen. Ich habe gehört, Nachts solle das Haus voller Franzosen stecken.“

„Na, das fehlte noch,“ sagte Fritz, „aber was soll ich machen? Wenn der Feldwebel sich solche Idee in den Kopf gesetzt hat, ist er eigensinniger als ein Maulesel.“

Lange schüttelte den Kopf. „Sehen Sie zu, daß Sie ihn davon abbringen. Das ist nichts anderes als Selbstmord.“

Der Freiwillige beschloß bei sich mit einem heiligen Schwur, sich nicht auf die Expedition einzulassen. Die Sonne sank langsam nach Westen. Nach einer Stunde gelang es Fritz, die Cigarre anzubrennen. Er sah träumerisch den blauen Wölkchen nach, welche auch dieses Kraut erzielte. Dann machte er nochmals mit Erfolg einen Schlafversuch und erwachte erst, als die letzten Strahlen der Sonne roth und goldig auf das Wäldchen fielen. Auf der Höhe flammten die Bivouacfeuer wieder auf; aus dem französischen Lager trug der Wind Gesang und Gelächter herüber. Dann schlug die Uhr der Kathedrale die zehnte Stunde. Einer nach dem Andern erhob sich in dem Schutz der Dunkelheit aus dem Graben, die steifen Glieder zu dehnen. Als der Freiwillige sich erhob, fühlte er sich an der Schulter berührt. Der Vicefeldwebel stand neben ihm. „Es ist Zeit,“ flüsterte er. Wie Posaunen hallten die Worte in das Ohr des Einjährigen.

„Auf ein Wort, Herr Vicefeldwebel,“ sagte er und trat mit ihm einige Schritte in das Wäldchen. „Sie wissen, Herr Vicefeldwebel, wie gern ich mich an der vorgeschlagenen Expedition betheilige;“ – –

Die Dunkelheit verbarg das ironische Lächeln, welches die Züge des Angeredeten überflog.

„– – nach reiflicher Ueberlegung fühle ich mich aber verpflichtet, Ihnen davon abzurathen; das Haus soll bei Nacht von den Franzosen besetzt sein, und wir dürfen uns wegen einer Flasche Wein nicht der Gefahr aussetzen, gefangen zu werden.“

„Unsinn!“ erwiderte der Feldwebel, „der Lieutenant ist ja vorige Nacht im Hause gewesen; außerdem sind wir nun doppelt verpflichtet, vorzugehen. Wir gehen nicht hin, um eine Flasche Wein zu holen, sondern wir machen eine Patrouille zur Aufklärung des Vorterrains und nehmen noch beiläufig Wein mit, wenn wir welchen finden. Sie haben doch zu Niemandem darüber gesprochen?“ fügte er mißtrauisch hinzu.

„Nein, bewahre!“ erwiderte der Freiwillige in möglichst aufrichtigem Tone.

„Geben Sie Ihr Gewehr ab! Es könnte hinderlich sein,“ fuhr der Feldwebel fort, „und nehmen Sie diesen Revolver! Ich habe noch einen; er ist geladen. Sehen Sie sich vor!“

Fritz nahm den Revolver widerwillig an und ergab sich in das Unvermeidliche. „Vorwärts denn, Herr Vicefeldwebel!“ sagte er mit verzweifelter Entschlossenheit. „Ich wasche meine Hände in Unschuld.“

„Waschen Sie nur zu!“ sagte der Feldwebel trocken und schritt voraus. Die Dunkelheit war vollkommen. Der Himmel hatte sich bewölkt. Als sie die Doppelposten vor der Linie erreichten, wurden sie angerufen. Sie gaben Losung und Feldgeschrei, passirten und schritten nun, ohne zu sprechen, auf die feindliche Stellung zu. Plötzlich blieb der Feldwebel stehen. „Hören Sie nichts?“ fragte er flüsternd.

„Nein,“ hauchte Fritz und fuhr mit der Hand über die feuchte Stirn.

„Auf den Boden!“ rief der Feldwebel leise, aber energisch; sein scharfes Ohr hatte deutlich Schritte vernommen.

Beide lagen regungslos. Eine feindliche Patrouille zog schwatzend kaum fünfundzwanzig Schritt an ihnen vorüber.

„Wollen wir noch weitergehen?“ fragte Fritz schüchtern.

Der Vicefeldwebel lachte kurz und ärgerlich. „Wollen wir jetzt vielleicht umkehren, wo wir ganz sicher sind, für’s Erste keiner feindlichen Patrouille wieder zu begegnen?“

Der Freiwillige unterdrückte mit Mühe einen Fluch und wünschte den Feldwebel in das Land, wo der Pfeffer wächst. Immer weiter schritten sie in die finstere Nacht hinein; endlich hob sich vor ihnen die dunkle Masse des Hauses in unbestimmten Umrissen. Vorsichtig schlichen sie heran und horchten. Kein Laut war zu hören. Sie tasteten an der Wand entlang bis zur Thür.

„Wollen Sie draußen Wache halten oder mit hineinkommen?“ fragte der Vicefeldwebel.

„Ich komm’ mit,“ flüsterte Fritz; er wäre nicht allein geblieben, nicht um beide Indien. Die Thür gab knarrend nach; noch tiefere Dunkelheit als draußen gähnte ihnen in dem verhängnißvollen Hause entgegen.

„Warten Sie!“ sagte der Vicefeldwebel leise, „ich werde leuchten.“ Er lehnte die Thür zu und rieb ein Streichhölzchen an. Das Licht fiel auf ein geräumiges Zimmer, angefüllt mit den Rudera von einigen Möbeln; Dachziegel lagen auf der Erde; ein Granatsplitter steckte in einer Wand. Links war eine offene Thür.

„Hier in dem zweiten Zimmer muß nach der Beschreibung der Eingang zum Keller sein,“ sagte der Vicefeldwebel und schritt rasch durch die offene Thür. Er rieb ein zweites Hölzchen an; auch hier waren nur Trümmer. An der hintern Wand gähnte ihnen der dunkle Eingang zum Keller entgegen. Der Vicefeldwebel blieb noch einmal, aufmerksam horchend, stehen; dann ging er schnell auf die Fallthür zu und stieg, gefolgt von dem Freiwilligen, vorsichtig die Stufen hinab. Noch einmal machte der Vicefeldwebel Licht: Flaschenscherben bedeckten den Boden; drei Wände waren kahl, aber dort! – sein Herz klopfte hoch auf vor Entzücken – dort an der Wand entdeckte er Regale, bis obenhinan angefüllt mit roth gesiegelten Flaschen. „Hurrah! was sagen Sie jetzt, Fritz?“

„Famos!“ sagte Fritz mit eigenthümlich bebender Stimme.

Im Nu war der Vicefeldwebel an dem Regal, orientirte sich schnell und warf das niedergebrannte Hölzchen fort. Er legte den Revolver auf die Erde und zog zwei Flaschen von ihrem Lager. „Kommen Sie her, Fritz!“

Er schob dem Freiwilligen die beiden Flaschen unter den linken, weitere zwei unter den rechten Arm. Wieder wollte er in das Regal greifen – da hielt er erschreckt inne. Das Knarren der Hausthür war an sein scharfes Ohr gedrungen. „Pst!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 213. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_213.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)