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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Wenn das goethe’sche Prometheusgedicht für ein culturgeschichtliches Document der in den siebenziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Deutschland eingetretenen Gährungsepoche anzusehen ist, so muß die gleichzeitig von unserem Dichter unternommene und ebenfalls nur fragmentarisch ausgeführte Ahasverdichtung als ein höchst wichtiges Actenstück zu seiner eigenen religiösen Entwickelungsgeschichte betrachtet werden. Schon in seinen Knabenjahren hatte er sich mittels fleißiger Volksbücherlesung die christliche Legende vom ewigen Juden fest eingeprägt. Jetzt ergriff er dieselbe, um sie zum poetischen Vehikel einer ebenso sehr pathetischen als auch polemischen Auseinandersetzung mit der kirchlichen Tradition zu machen. Er wollte die Figur des ewig wandernden Juden benutzen, um mittels der Ahasverabenteuer die wichtigsten Erscheinungen des religions- und kirchenhistorischen Processes dichterisch zu veranschaulichen, und er hoffte wohl auch, als Resultat seiner Bemühung „ein Christenthum zu seinem Privatgebrauche“ zu gewinnen. Der Ahasverustorso ist, wunderlich zu sagen, eine von Goethe’s im großen Publicum am wenigsten bekannten Dichtungen, und doch muß dieser Torso als eine seiner genialsten, ursprünglichsten, so recht als ein Nummer-Eins-Ding anerkannt werden. Der Eingang:

„Um Mitternacht wohl fang’ ich an,
Spring’ aus dem Bette wie ein Toller;
Nie war mein Busen seelenvoller,
Zu singen den gereisten Mann. …“

ist reines Kraftgenie, nicht minder die allerdings nicht gerade schmeichelhafte, jedoch naturgetreue Conterfeiung des Priesterthums: –

„Die Priester vor so vielen Jahren
Waren, als wie sie immer waren
Und wie ein jeder wird zuletzt,
Wenn man ihn hat in ein Amt gesetzt.
War er vorher wie ein’ Ameis’ krabblig
Und wie ein Schlänglein schnell und zapplig,
Wird er hernach in Mantel und Kragen
In seinem Sessel sich wohlbehagen.
Und ich schwöre bei meinem Leben,
Hätte man Sanct Paulen ein Bisthum geben,
Poltrer wär’ worden ein fauler Bauch
Wie caeteri confratres auch.“

Ebenso klingt der kraftgeniale Ton vor in der Charakteristik des jerusalemischen Schusters, der „halb Essener, halb Methodist, Herrnhuter, mehr Separatist“, und dann in der Scene zwischen Gottvater und Gottsohn: –

„Der Vater saß auf seinem Thron,
Da rief er seinen lieben Sohn,
Mußt’ zwei- bis dreimal schreien.
Da kam der Sohn ganz überquer
Gestolpert über Sterne her
Und fragt, was zu befehlen?“

Der Vater hat zu befehlen, daß der Sohn zum zweitenmale zur Erde niedersteigen sollte, weil es da drunten wieder einmal ganz elend herginge und alles aus Rand und Band wäre. Du aber –

„Du hast ein menschenfreundlich Blut
Und hilfst Bedrängten gerne“ –

auf welche in ironischem Tone vorgebrachte Bemerkung der Sohn entgegnet:

„Du fühlst nicht, wie es mir durch Mark und Seele geht,
Wenn ein geängstet Herz bei mir um Rettung fleht,
Wenn ich den Sünder seh’ mit glühenden Thränen. …“

und damit wendet sich der Ton in’s Pathetische hinüber, zu einer herrlichen Schilderung des zweiten Herabkommens Christi. Auf der Spitze des Berges, auf welchem er vormals vom Satan versucht worden, hält er an und: –

„‚Wo,‘ rief der Heiland, ‚ist das Licht,
Das soll von meinem Wort entbronnen?
Weh’! und ich seh’ den Faden nicht,
Den ich so rein vom Himmel ’rab gesponnen.
Wo haben sich die Zeugen hingewandt.
Die treu aus meinem Blut entsprungen?
Und, ach, wohin der Geist, den ich gesandt?
Sein Weh’n, ich fühl’s, ist all verklungen!‘“

Von meisterlicher Kaustik ist dann wieder das letzte Bruchstück, wo Christus, nachdem er „der Länder satt, wo man so viele Kreuze hat“, in protestantische Gebiete und zu dem lutherischen Oberpfarrer kommt. Die Reformation kriegt da auch was ab: –

„Sie nahm den Pfaffen Hof und Haus,
Um wieder Pfaffen ’nein zu pflanzen,
Die nur in allem Grund der Sachen
Mehr schwätzen, weniger Grimassen machen.“

Mohammed, Prometheus und Ahasver mußten jedoch zurücktreten vor der einheimischen Sagengestalt des Doctor Faust. Diese war unserem Dichter ebenfalls schon von seinen Knabenjahren her bekannt und lieb aus dem Volksbuch, welches ja in seiner Vaterstadt Frankfurt im Jahre 1587 in ältester und echter Gestalt zum erstenmal gedruckt worden. An demselben Orte also, wo der ganze Sagenkreis, welcher sich im Verlaufe des sechszehnten Jahrhunderts um die abenteuerliche Figur des Wunderarztes aus Knittlingen in Schwaben hergelegt hatte, zuerst in literarischer Form in die Oeffentlichkeit gelangt war, dort stand der Dichter auf, welchem gegeben war, diesen deutschen Stoff zu einem universalen Kunstwerk, zu einem Weltgedichte zu gestalten, und zwar – ein Wort Gödeke’s zu entlehnen – mittelst der „Herausbildung des Einfachst-Menschlichen aus einem Wust mittelalterlicher Abenteuerlichkeit.“ Ich sagte mit Bedacht, zu einem „Weltgedicht“ habe Goethe die Faustsage gestaltet; denn es ist meine volle Ueberzeugung, daß dem goethe’schen Faust für das moderne Weltalter dieselbe Bedeutung zukommt, welche für das antike den homerischen Gesängen und für das mittelalterliche der göttlichen Komödie des Dante zukam.

Das Faust-Thema hat für einen richtigen Deutschen so viel Anziehendes, daß es nicht leicht, dasselbe nur im Vorübergehen zu berühren und nicht dabei zu verweilen. Wir aber dürfen uns trotzdem hier noch nicht dabei aufhalten, sondern müssen dies bis dann versparen, wann vom Abschluß und dem Erscheinen des ersten Theils der Faust-Dichtung zu handeln sein wird. Der faustischen Arbeit Goethe’s werden wir inzwischen freilich noch mehrmals zu gedenken haben. Zur Stunde jedoch ist es nur angezeigt, auf die Anfänge des eigentlichen Lebenswerkes unseres Dichters aufmerksam zu machen, eines Werkes, welches auch das Einzig-Eigenthümliche hat, daß es im stürmischen Saus und Braus der Jugend angehoben und im stillen Dämmerungsfrieden des höchsten Greisenalters beschlossen worden ist. … Die Einwirkung seiner frommen Freundin Klettenberg hatte, wie wir gesehen, den jungen Streber von Wolfgang zur Lesung von allerhand mystischen, alchymistischen und kabbalistischen Scharteken geführt und er war schon zu seiner straßburger Zeit im „Geisterreich“, das heißt in der vom antiken und mittelalterlichen Zauberglauben aufgebauten, eingerichteten und bevölkerten Phantasiewelt wohlbewandert. Ob ihn die Faustsage, wie einige wollen, in Gestalt des alten Puppenspiels schon in seinen Kinderjahren mit nachhaltiger Gewalt ergriffen habe, steht dahin. Aus der frankfurter Messe von 1773 sah er dies alte Marionettenstück wieder einmal tragiren und da scheint ihn allerdings das Thema so recht gepackt zu haben. Wir sind aber zu der Annahme berechtigt, daß er schon während seines Verweilens in Wetzlar nicht nur häufig faustisch gestimmt gewesen sei, sondern auch Faustdichtungsabsichten gehabt habe. Einer seiner wetzlarer Freunde nämlich war F. W. Gotter, welcher im Jahre 1770 gemeinsam mit Boie den ersten „Musenalmanach“, das Organ des göttinger „Hainbundes“, herausgegeben hatte. Diesem Freunde, der ihn mit den Hainbündlern und Musenalmanächlern in Beziehung brachte, mag der Dichter seinen Faustgedanken vertraut haben. Denn nachdem er zu Ostern 1773 ein Exemplar seines Götz mit einer, wie zu vermuthen steht, kraftgeniemäßig stilisirten Scherzepistel in Versen an Gotter geschickt hatte, antwortete dieser im gleichen Tone, theilte mit, daß seine „Epistel über Starkgeisterei“ in Wieland’s „Deutschem Merkur“ erscheinen werde, und schloß also:

„Du nächstens im Mercurius
Wirst finden was von meiner Mus’,
Und freut mich recht von Herzensgrund,
Wenn dir der Dreck gefallen kunnt’.
Schick’ mir dafür den Doctor Faust,
Sobald dein Kopf ihn ausgebraus’t.“

Mit dem „Ausbrausen“ ging es aber nicht so rasch, wie der gute Gotter wünschen mochte. Zunächst verlangte der Werther „ausgebraus’t“ zu werden. Doch fällt die Schaffung der Anfänge von Faust – also der das Gedicht eröffnende große Monolog des Helden und das daran sich knüpfende Gespräch mit dem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 422. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_422.JPG&oldid=- (Version vom 6.7.2019)