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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Tanzsaal das Freie, die Plätze unter der Ortslinde, vor dem Thore, ja selbst, altheidnischen Brauch festhaltend, die Kirchhöfe und die Vorhallen der Kirchen.

In größeren Gesellschaften machten die Frauen vor dem Tanze stets neue Toilette. Aber auch ländliche Schöne umwanden, nach einer Schilderung Neidhardt’s, des Dorfpoeten, ehe sie zum Reihtanz gingen, das Haar mit Seidenborten und hingen um den Hals an seidener Schnur einen Spiegel, ja verstiegen sich sogar zu einer Schleppe. Alles aber trug Kränze im Haar. Der Tanz hub meist gegen Abend an – einige Zeit nach der Hauptmahlzeit – und dauerte bis gegen die Zeit des gewöhnlichen Schlafgangs. Wenn auf ein Zeichen des Herrn oder der Herrin des Hauses „Geigen, Flöten und Posaunen schwiegen“, so blieb man auf eine Kurzweil beisammen, wie eine anmuthige Schilderung in Wolfram’s „Parcival“ lehrt:

„Die Jungfrau’n im blühenden Farbenglanz
Lassen sich nieder dort und hie,
Und die Ritter setzen sich zwischen sie.
Es ließen die Zungen sich nicht binden,
Um liebe Gegenrede zu finden.“

Diese dem Minnewerben günstigste Zeit dauert indeß nur so lange, bis der Nachttrunk verabreicht wird. Der Nachttrunk war das Signal zum Aufbruch, wie es an jener Stelle weiter heißt; nach ihm verließen Alle den Saal nach vielfachem Hin- und Wiedergrüßen, wie auch die Trennung, bemerkt der Dichter schalkhaft mit Bezug auf manch jugendlich Paar, sie mochte verdrießen. Mit einem bis zur Zeit, da sich Nacht und Tag vermählen, andauernden Cotillon war es also damals noch nichts. Es mußte zuvor der ganze wilde Strom fränkischer Cultur und Sitte die gesunde Entwickelung unseres nationalen Lebens durchbrechen.




Abnorme Kinder.
Von J. Moldenhawer, Director des königl. Blindeninstituts zu Kopenhagen.

„Wer ist unglücklicher, der Blinde oder der Taubstumme?“ – das ist eine Frage, die man oft hört. Gewiß ist Taubheit sowohl als Blindheit ein Unglück, da der Mensch durch dieselben eines der wichtigsten Sinne, des Gehörs oder des Gesichts, beraubt wird, es geht aber hiermit, wie mit so vielen Prüfungen – weder die eine noch die andere ist ein unbedingtes Unglück, da derjenige, der davon betroffen wird, trotzdem ein zufriedener und glücklicher Mensch werden kann, der ein in jeder Beziehung menschenwürdiges Leben führt. Gewöhnlich halten die Taubstummen sich für glücklich im Vergleich mit den Blinden, und umgekehrt; es mag dies daher kommen, daß sie selbst keine klare Vorstellung von dem eigenen, wie von dem andern Gebrechen haben. Wohl ist aber hierbei zu beachten, daß diejenigen, welche sich auf diese Weise aussprechen, immer solche sind, die Unterricht genossen und demzufolge sich mit den übrigen vier Sinnen zu behelfen gelernt haben. Blindheit und Taubheit sind nur dann ein wirkliches, ein großes Unglück, wenn sie in Verbindung mit solchen Verhältnissen auftreten, daß dadurch die bestimmungsgemäße Entwickelung des Menschen und die rechte Anwendung seines Daseins gehindert werden. Tief zu beklagen sind daher die Blinden und Tauben, denen Unterricht und Erziehung versagt bleiben, sie gehören zu den unglücklichsten unter unsern Mitmenschen.

Diejenigen Punkte, in denen das Mißverhältnis zu Vollsinnigen am stärksten hervortritt, sind: bei blinden Kindern der Mangel an Mitteln zu nützlicher Beschäftigung und eine daraus hervorgehende Erschlaffung der körperlichen und geistigen Kräfte, im Verein mit mangelhafter Entwickelung, langer Weile und Passivität – bei tauben Kinder: die Schwierigkeit der Verständigung mit Hörenden in allen den Verhältnissen, die außerhalb des rein Persönlichen oder des Materiellen liegen, und eine daraus folgende Armuth an Vorstellungen, namentlich höherer Art, und ein Gefühl des Alleinstehens. Sobald nun das Kind dasjenige Alter erreicht hat, in welchem die genannten Entbehrungen sich geltend machen, wo also das blinde Kind das Bedürfniß dauernder Beschäftigung, das taube Kind das Bedürfnis eines vollkommneren Mittheilungsmittels, als der bisher benutzten natürlichen Zeichensprache fühlt, ist auch der Zeitpunkt gekommen, an welchem regelmäßiger Unterricht beginnen muß. Ich werde im Folgenden das Verfahren beim Unterrichte blinder und taubstummer Kinder je für sich betrachten, indem ich die in meiner Heimath, Kopenhagen, bestehende Ordnung zunächst in’s Auge fasse.

Der Blinde.

Wenn man bedenkt, wie groß die Bedeutung des Gesichtssinnes bei Kenntnisnahme der Dinge und Verhältnisse in der Welt ist, so begreift sich das Ungenügende einer durch bloße mündliche Erklärung übermittelten Vorstellung von den Dingen. Es muß nothwendiger Weise noch eine andere, ähnlich wie das Gesicht wirkende Sinnesthätigkeit helfend eintreten, und der einzige Sinn, welcher diese Bedingungen erfüllt, ist der Gefühls- oder Tastsinn. Namentlich spielt das feine Gefühl in den Fingerspitzen eine so bedeutungsvolle Rolle beim Blindenunterrichte, daß erst die Anwendung desselben zum Lesen erhabenen Drucke und erhabener Schrift, zur Orientirung auf Reliefkarten und Reliefgloben und zur Untersuchung von Formen und Raumverhältnissen die Blindenschule in den Stand gesetzt hat, neben der Schule für vollsinnige Kinder einen würdigen Platz einzunehmen.

In den täglichen Verhältnissen spielt für den Blinden das Gehör die Hauptrolle, da es ihm in solchen Fällen hilft, wo er mit den Gegenständen nicht in unmittelbare Berührung kommen kann, und ihn oft davon benachrichtigt, wenn sich Etwas ihm nähert, oder er in die Nähe eine Gegenstandes kommt. Eine merkwürdige Anwendung des Gehörs habe ich in einigen Fällen angetroffen. So befindet sich im hiesigen Institute ein vollkommen blinder Knabe, der dann und wann leise in die Hände klatscht oder mit der Zunge schnalzt. Aus meine Frage hin, warum er dieses thue, erwiderte er: „Die Dinge antworten mir dann.“ Auf diese Weise antwortet nicht nur das Haus, sondern auch die offene Thür des Hauses, sodaß er seinen Schritt dahin richten kann; es antworten die Kühe auf dem Felde, sodaß er sich von der einen zur andern finden kann; ja, das Wasser im Lehmgraben antwortet, wenn er sich demselben nähert, und die Bäume im Walde, sowie die Steinhaufen an der Landstraße antworten, wenn er vorüber geht oder fährt, sodaß er sie zählen kann. Es ist das schwache Echo, welches die Gegenstände zurückwerfen und das sein feines Ohr auffaßt, während Andere es nicht bemerken. Ein früherer, sehr musikalischer Zögling konnte bei jedem Laute, den er hörte, den Ton und die Octave desselben angeben, wenn er z. B. einen Hund bellen, einen Hahn krähen, ein Glas oder einen metallenen Gegenstand klingen hörte.

Wenn das blinde Kind in’s Blindeninstitut kommt, schließt es sich seinen Cameraden bald an, und diesen macht es Freude, dem Neulinge in den ihm ungewohnten Umgebungen zurecht zu helfen. Es dauert darum gewöhnlich auch nicht lange, so fühlt es sich heimisch und findet sich leicht in Haus und Garten zurecht. Weiter wird der Zögling von Anfang an so weit als möglich daran gewöhnt, mit allen zum täglichen Leben gehörenden Dingen sich selbst zu helfen, sich also aus- und anzukleiden, sein Bett zu machen und seine Speise zu zerschneiden.

In den Erholungsstunden, hauptsächlich nach dem Frühstücke und dem Mittagessen, rühren sich die Zöglinge im Freien, wenn das Wetter es erlaubt; sie spazieren dann zu zweien oder dreien im Garten herum, gehen auf Stelzen und spielen verschiedene Spiele.

Während der fünf Jahre, welche die Zöglinge dazu brauchen, um die Schule zu absolviren, sind sie Vormittags täglich vier bis fünf Stunden in den Schulclassen; die übrige Arbeitzeit, ebenfalls vier bis fünf Stunden täglich, wird zu Gesang, Turnen, Musik und Handarbeit benutzt. Nach den Schuljahren brauchen die Knaben gewöhnlich zwei Jahre, die Mädchen ein Jahr, um sich praktisch weiter auszubilden.

Die Wahl eines Handwerks geschieht nicht gleich nach der Aufnahme; zuerst lernen die Knaben das Schilfflechten, und wenn sie es so weit gebracht haben, daß sie eine Matte verfertigen können, ist es ihnen erlaubt, ein Handwerk zu wählen Bei der Wahl desselben ist die Neigung des Knaben entscheidend, wenn

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 34. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_034.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)