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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


zur Eroberung Englands auszogen. Pipin und Karl der Große, welche beide in ihren Kämpfen mit den Sachsen bis in diese Gegenden vordrangen, haben gewiß auch Flotten an der Küste hingeführt, doch wissen wir nichts weiter darüber.

Wohl aber ist hier der Punkt, wo wir das, was wir oben andeuteten, nochmals besonders hervorheben müssen: das Watt als mächtigen Schutz unserer heimischen Küsten – das bedeutendste Beispiel hierfür ist noch in unser aller Gedächtniß – bei der Unfertigkeit unserer Küstenvertheidigung hätten die Franzosen 1870 mit der überlegenen Flotte uns unberechenbaren Schaden zufügen können, eine bei weitem größere Truppenmasse wäre der Armee im Felde entzogen worden, die Situation eine nicht unwesentlich andere gewesen – aber da lag das Watt weit hinausgestreckt in See auf der Lauer, den ersten Franzosen, der sich heranwagen würde, an seinen Bänken zu zerschellen, und die Herren Franzosen hielten es denn auch für gerathener und zuträglicher, diesem unheimlichen Vertheidiger der deutschen Küste in weitem Bogen aus dem Wege zu gehen – denn daß alle Seezeichen eingezogen waren, brauchen wir wohl nicht erst anzudeuten.

Durch alle Jahrhunderte bis in die neuere Zeit stand die Seeräuberei in dem Wattmeer in schönster Blüthe, und die Hamburger und Bremer konnten sich ihrer trotz Schiffsmacht und Bündnisse, trotz Köpfen und Pfählen selbst bis in’s siebenzehnte Jahrhundert hinein nicht ganz erwehren. Die früheste Nachricht besitzen wir durch Plinius über die Seeräuberei der Chauken, von denen er erzählt, daß sie in ausgehöhlten Baumstämmen, deren einer dreißig Mann faßte, an den Küsten hinfuhren und besonders diejenigen Galliens plünderten. Diesen folgten später Sachsen und Franken, die, wie die Britannier, sich lederüberzogener Schiffe bedienten, Friesen, Dänen und Normannen, Oldenburger, Wurstner, Dithmarschen, Engländer, Franzosen, kurz, Seeräuber von den heimischen Küsten wie aus aller Herren Ländern.

(Schluß folgt.)




Franz Liszt.
Ein musikalisches Charakterbild.
Von La Mara.


Der Musikhistoriker, der es unternimmt, Wesen und Charakter der einzelnen Perioden in der Entwickelung der Tonkunst darzulegen, wird die gegenwärtige, wie die ganze Nach-Beethoven’sche Epoche überhaupt, als eine von poetischer Tendenz erfüllte bezeichnen dürfen. Seit Beethoven in der Riesenthat seiner neunten Symphonie die Schranken der absoluten Musik durchbrach und im instrumentalen Kunstwerk die Hülfe des dichterischen Wortes in Anspruch nahm, hiermit eine neue Phase seiner Kunst einleitend, einigten sich die Schwesterkünste Poesie und Musik zu immer innigerem Bunde. Ein Blick auf die musikalische Dramatik Weber’s und Wagner’s, auf die instrumentale und vocale Lyrik der letzten fünf oder sechs Jahrzehnte belehrt uns darüber zur Genüge. Die letzten, mehr im declamatorischen Stil gehaltenen Lieder Schubert’s, die Concertouvertüren und Lieder ohne Worte Mendelssohn’s, die Symphonien Berlioz’, die Clavier- und Liederpoesie Schumann’s, Chopin’s, Franz’, die Orchester- und Kirchenwerke Liszt’s veranschaulichen auf das Deutlichste den Weg, den die Tonkunst nach dieser Richtung eingeschlagen, und zeigen die Consequenzen dieses poetischen Princips am schärfsten in den Schöpfungen Liszt’s entwickelt. Die gleichen Bestrebungen, die sein Freund und Kunstgenosse Wagner auf der Bühne verfolgte, brachte er in Concertsaal und Kirche zur Geltung. Es war ihm nicht genug, der größte Virtuos zu sein, den die Welt gesehen, auch in einer lange Reihe schöpferischer Thaten sollte sich sein Genius bezeugen, während er zugleich als Dirigent und Lehrer für Verlebendigung seiner Ideale wirkte und ein Hauptvertreter der Schule ward, die sich die neudeutsche oder neuromantische nennt.

Wie er als Pianist auf seinem Instrument gleichsam eine neue Welt entdeckte, die in ihm schlummernden orchestralen Kräfte erweckte und dessen eigentlichste Glanzzeit herbeiführte, mußte er auch als Componist neue selbstständige Bahnen wandeln. Wenn auch nicht so rasch wie dem vom ganzen musikliebenden Europa gefeierten Clavierbeherrscher, so wandte sich doch auch dem schaffenden Meister Liszt die Gunst des Erfolges zu. Die Musikgeschichte erzählt kaum von einem Künstlerdasein, das sich an Glanz und Erfolg mit dem seinen zu messen vermöchte. –

Im Kometenjahr 1811 ward Franz Liszt am 22. October in dem Dorfe Raiding bei Oedenburg in Ungarn geboren.[1] Sein Vater Adam Liszt, der Nachkomme einer adeligen Familie, die sich jedoch bei zurückgekommenen Vermögensverhältnissen ihres Adelsrechtes begeben hatte, war daselbst als Rechnungsführer des Fürsten Esterhazy angestellt. Als eifriger Musikfreund, der selbst mehrere Instrumente spielte, erkannte er die sich frühzeitig kundgebende Begabung seines Kindes und begann auf seine dringenden Bitten im sechsten Jahre mit ihm den Clavierunterricht. Drei Jahre später erspielte der kleine Franz sich bereits in Oedenburger und Preßburger Concerten die Bewunderung der Zuhörer in solchem Maße, daß einige ungarische Magnaten sich sofort erboten, durch ein Stipendium von tausend Gulden sechs Jahre hindurch die Kosten seiner Ausbildung zu tragen.

Dieselbe ward nun in Wien, wohin Vater und Sohn sich nach Aufgeben der Stellung des Ersteren wandten, unter Führung Czerny’s und Salieri’s in Clavierspiel und Composition energisch betrieben, und am 13. April 1823 hörte die musikliebende Kaiserstadt Franz Liszt zum ersten Male. Das äußerst günstige Resultat dieses ersten Concerts, das dem genialen Knaben eine Umarmung des ihm zu Ehren anwesenden Beethoven als höchsten Lohn eintrug, lieferte in Verbindung mit einem zweiten die Mittel, seine künstlerische Ausrüstung in Paris zu vollenden. Auf dem Wege dahin ward er bei seinem Auftreten in Stuttgart und München als „ein zweiter Mozart“ begrüßt. Die sehnlich gehoffte Aufnahme in das Pariser Conservatorium zwar blieb ihm, als einem Ausländer, trotz eines glänzend bestandenen Examens, von Cherubini versagt, doch fand er in Paer und Reicha thätige Förderer und Leiter seiner jugendlichen Bestrebungen. Bald war er der gefeierte Held des Tages, der Liebling der musikalischen Aristokratie, und die Pariser Blätter ergingen sich in Lobpreisungen des phänomenalen Talentes, das „keinen Nebenbuhler mehr kannte“. Auch als Componist, als welcher er bereits in Wien die Aufmerksamkeit Salieri’s erregt hatte, trat er nun an die Oeffentlichkeit, und eine einactige Oper: „Don Sancho, oder das Schloß der Liebe“, die er im Jahre 1825 in der Académie royale zur Aufführung brachte, ward so beifällig aufgenommen, daß Nourrit, der Repräsentant der Hauptrolle, den jugendlichen Componisten auf seinen Armen dem jauchzenden Publicum entgegentrug.

Reisen in die Provinzen, nach England und der Schweiz brachten ihm neue Triumphe. Da starb plötzlich sein treuer fürsorglicher Vater, und der sechszehnjährige Jüngling sah sich auf sich selbst gestellt. Schleunig rief er seine Mutter, an der er bis an ihr Ende mit der ganzen Innigkeit seines Herzens hing, zu sich nach Paris und legte ihr als Willkommengruß seine bisherigen Ersparnisse, 100,000 Franken zu Füßen, die ihren Lebensabend vor Sorgen sicher stellen sollten.

Religiöse Scrupel und innere Kämpfe, politische Prinzipien- und Parteifragen, philosophische und allgemeine Studien, welche letztere ihn die vielbewunderte Universalität seiner Geistesbildung gewannen, beschäftigten ihn während der nächsten Jahre. Nicht nur eine künstlerische Begabung und Entwickelung, sondern mit ihr gemeinsam eine allgemeine Ausbildung des Geistes und Charakters sind ja nach seiner Ansicht Träger und Bedingniß wahren Künstlerthums. Alle Virtuosität wollte er „nur als Mittel, nicht als Endzweck“ betrachtet wissen. War das Virtuosenthum vor ihm auf nicht viel mehr als bloße Fingerfertigkeit hinausgelaufen, so erschien er, laut Dehn’s, des berühmten Harmonikers, Zeugniß, als „der Erste, welcher der ganz vorzugsweise durch ihn ausgebildeten Technik eine innere Bedeutung gab, der sie zu einem höheren Zwecke benutzte“. Die hohe Ueberlegenheit seiner Künstlerschaft

  1. Eingehenderes über Liszt’s Leben und Schaffen siehe in: La Mara, „Musikalische Studienköpfe“, 1. Band, 5. Auflage. (Leipzig, Schmidt und Günther.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 552. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_552.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)