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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Wiederschlafensollen, während er mir eine frische Kompresse auf die Stirn legt, in der ich jetzt arge Schmerzen habe. Wie er sich dabei über mich beugt mit seinem lieben guten blassen Gesicht, ist es mir, als ob ich ihn zum ersten Male sähe. Und ich sehe, daß er ein alter Mann ist und nicht der Mann mit den blitzenden blauen Augen gewesen sein kann, vor dem meine Mutter und ich auf den Knieen gelegen haben.

Ich richte mich auf dem Ellbogen auf und sehe mich nach der Mutter um, als ob ich ihr diese sonderbare Entdeckung mittheilen müßte. Aber die Mutter ist nicht mehr da. Der Vater fragt mich, ob ich trinken wolle? Ich sage: ja, und trinke gierig ein paar Schlucke aus dem Glas, das er mir an den Mund hält. Dann sinke ich auf das Kissen zurück und starre in das gute, blasse, bekümmerte Gesicht des alten Mannes, und denke an den schönen Mann mit den blitzenden Augen, bis ich, was wohl schon nach wenigen Sekunden geschehen sein mag, wieder in meinen Fieberschlaf verfalle.


2.

Ich weiß nicht, wie lange meine Krankheit gewährt hat, aber es mögen Wochen gewesen sein, und als ich wieder aufstehen und auf dem Wall hinter dem Gärtchen spielen durfte, war ich ein ganz Anderer, als der an jenem Abend mit Emil Israel in der dunklen Gasse gespielt hatte.

Auf dem Wall aber hinter dem Gärtchen brachte ich jetzt in der Zeit der Genesung manche Stunde zu, mit den durch die Krankheit und die Nachwirkung des Traumes verwandelten Sinnen in die Welt blickend, die ich jetzt zum ersten Mal wirklich gesehen haben kann, denn wie ich sie damals sah, so ist sie in meiner Erinnerung geblieben; und will ich sie mir in ihrem vollen Glanze zurückrufen, stehe ich sicherlich im Geist auf dem Walle hinter dem Gärtchen und blicke in die Zauberwelt hinein.

Ja, die Zauberwelt! Süßer können die Vögel im Paradiese nicht gesungen, heller kann der Himmel nicht geblaut, kann die Sonne nicht geglänzt haben! Die Vögel aber sangen in der Wildniß der Haselsträuche, mit denen der Wall überdeckt ist, hier dünner, dort dichter; und zwischen den Haselsträuchen nickte langes Gras, das niemals geschnitten wurde, und gelbe Butterblumen, über denen große weiße Schmetterlinge sich in der blauen Luft wiegten.

Der Wall mochte in der Befestigung der Stadt einmal eine Rolle gespielt haben – in den Schwedenzeiten vielleicht, als es galt, diese Seite des Hafens vor einem Angriff von der See her zu schützen. Jedenfalls hatte er seit urvordenklicher Zeit jede fortifikatorische Bedeutung verloren und war herrenloses Terrain geworden, auf dem die Anwohner der Hafengasse, als auf ihrem Eigenen, schalteten, mit ihren Gärtchen bis auf die Höhe hinaufkletternd und oben auf den sonnigen Stellen ihre Wäsche trocknend, ihr Leinen bleichend, während die Kinder in den Büschen Räuber und Gendarmen spielten oder auch an hellen Sommermorgen, während die anderen in der Schule saßen, ein kleiner Träumer wie ich das ganze Gebiet für sich allein hatte und ungestört nach allen Richtungen durchschweifen mochte.

Nach der Seeseite fiel der Wall steiler ab, so daß man nur auf einigen Stellen, wo das Erdreich über die Futtermauer unten bis an das Wasser gerutscht war, sicher hinab gelangen konnte. Das Wasser aber bildete hier eine Bucht, die früher wohl ein Stück vom Hafen gewesen, jetzt aber völlig versandet und verschlammt war, so daß die paar kümmerlichen, den Anwohnern gehörigen Boote nur wenn der Wind von Westen, von der See, kam, flott gemacht werden konnten. Hatte aber der Wind ein paar Tage vom Lande geweht, so staken die Boote halb oder ganz in dem schwarzen Schlamm, über den man auf Steinen, die nun hervortraten, bis zu den Booten und über dieselben hinaus auf reinlichen Sand gelangen konnte, um da alle möglichen merkwürdigen Dinge zu finden: todte Fische, Muscheln, die das Meer zurückgelassen; dazu Tauenden, zerbrochene Ruder, Korkstöpsel, zerfetzte Bastkörbe, zerbrochene Cigarrenkästen und der Himmel weiß, was noch sonst von dem eigentlichen Hafen herübergetrieben war. Der Hafen lag zur Linken vor der eigentlichen Stadt, durch ein Stück freies Wasser, das für das Kinderauge außerordentlich breit schien, von uns getrennt: mit seinen großen und kleinen Schiffen, von deren Masten die bunten Wimpel flatterten, und dem Gewimmel der Boote, die zwischen den Schiffen hin und her fuhren, während von der Werft, je nach dem Stand des Windes, das Klopfen der Hämmer und Schlägel und der Duft des Theeres mehr oder weniger deutlich und scharf herüberkam. Hinter dem Hafen die Stadt mit ihren Häusermassen und ragenden Thürmen, alles umflossen von goldigem Morgensonnenschein.

Denn im Morgensonnenschein sehe ich, was ich hier zu schildern versuche, nur im goldigsten Morgensonnenschein, als hätten die bösen Geister des Mallen Heinrich gestern Abend gar schlimm gegen den Nikolaithurm und die schöne Musik gewüthet, und der liebe Gott lächle über die gerettete Erde mit seinem gütigsten Lächeln. Ueber die Erde und das Meer! Ueber das noch besonders! Wie blaut es in seiner stolzen Breite, zwischen dem Festlande und der Insel drüben sich westwärts in das Endlose dehnend! Wie glitzert und blinkt es in der Nähe, übersäet von Millionen hüpfender goldener Sternchen! So, daß es die ganze Schärfe des Kinderauges erfordert, um die Möve wiederzufinden, deren schneeweiße Fittige eben noch durch die blaue Luft schwingten, und die sich jetzt, die Fittige zusammenlegend, niedergelassen hat in dem Meer von goldnen Sternchen, Und von des Mallen Heinrich schöner Musik ist noch ein gutes Stück übrig geblieben; ja, das ganze wonnige Erden- und Meeresrund ist von ihr erfüllt. Ist es nicht Musik, das dumpfe taktmäßige Geräusch der zwischen den Pricken sich reibenden Ruder von dem Boot, das da durch das glitzernde Wasser gleitet? Die Entfernung ist nicht gering – ich kann nur eben noch unterscheiden, daß ein Mann rudert und im Stern eine Frau mit einer hohen Kiepe sitzt, die sie vor sich gestellt hat; aber die Stille ringsumher ist so groß – ich kann hören, wenn sie von Zeit zu Zeit mit einander sprechen. Ist es nicht Musik, das leise Plätschern der Wellchen unten an der Futtermauer? Denn es ist heute Hochwasser, obgleich das Meer ganz ruhig ist; und ich habe nicht hinabgekonnt, sondern bin oben auf dem Wall und kaure da auf meinem Lieblingsplatz im Schatten von ein paar besonders hohen und dichten Haselsträuchen, in denen zu meinen Häupten auf schwankem Zweig ein Vögelchen sitzt und, ohne sich durch meine kleine, stille Gegenwart stören zu lassen, sein Liedchen singt; wenn es schweigt, antwortet sofort ein zweites aus einem etwas hinter mir stehenden Gebüsch. Das ist gewiß Musik. Aber für mein empfängliches Kinderohr ist es auch das Gezwitscher der Spatzen, die sich durch die Büsche jagen; und ganz gewiß auch das Gackern des Huhns, das eben, häufig den Kopf mit dem gerötheten Kamm wendend, durch das nickende Gras herankommt. Es ist eines von Nachbar Hopp’s schwarzen Hühnern (wir haben keine) und will gewiß ein Ei legen und hat sich dazu vermuthlich meine Büsche ausgesucht, denn, wie es meiner gewahr wird (trotzdem ich mich ducke und den Athem anhalte), kräht es ordentlich vor Schrecken und Aerger, macht Kehrt und läuft in der Richtung, aus der es gekommen, zurück, lauter und ängstlicher als zuvor gackernd. Ich folge ihn, und sehe nur noch eben, wie es von dem Wall hinab in den Hopp’schen Hof fliegt zum Schrecken der andern Hühner, die auseinanderrennen und, des Hahns, der einen durchdringenden Warnruf erschallen läßt und, als er sieht, daß die Sache nichts zu bedeuten hat, sich aufrichtend, mit den Flügeln schlägt und dazu mächtig kräht.

Aber meine Aufmerksamkeit ist bereits von den Hühnern weg nach dem Leichenwagen gerichtet, der aus dem Schuppen gezogen ist und von Karl Brinkmann, dem Fuhrknecht, abgewaschen wird. Die schwarzen Tücher, die sonst von dem Verdeck herab gardinenmäßig nach den Seiten zusammengenommen sind, hat Karl Brinkmann, um sie nicht naß zu machen, über das Verdeck hinauf geschlagen, so daß man nur die nackten vier Säulen sieht. Dazu pfeift Karl Brinkmann, während er mit dem leeren Eimer nach der nahen Pumpe geht, den kreischenden Schwengel schwingt, mit dem gefüllten nach dem Wagen zurückkehrt und das Wasser durch die Räder gießt, daß es klatscht. Ich wundere mich, ob das wirklich derselbe Wagen ist, in welchem sie vor meiner Krankheit meinen Freund Gustav, eines der vielen Kinder des Fuhrherrn, auf den St. Johanniskirchhof gefahren haben; und Karl Brinkmann selbst hat ihn gefahren, und hinterher kamen sämmtliche vier Hopp’sche Kutschen mit Vater und Mutter Hopp in der ersten, und die Verwandten und Befreundeten, zu denen auch mein Vater gehörte, in den anderen. Und Karl Brinkmann, der jetzt in bloßem Kopf und in Hemdärmeln ist, hatte einen großen Dreispitz auf, von dessen Ecken Trauerflore herabhingen, und einen großen schwarzen Mantel mit vielen Kragen an und hatte ein so feierliches Gesicht gemacht! Denn Gustav war sein großer Liebling gewesen, und unter seiner Anleitung schon fast ein richtiger

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