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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

und schmäleren Striche, die sogenannten Schneebesen, die der Sturm dort oben in unwirtlicher Höhe zusammenpeitschte. Das kleine Haus des Romedi hatte es fast eingeschneit. Er mußte mit seinem Bruder in den letzten Tagen immerwährend Schnee aufschaufeln, damit ihm die weißen Massen nicht bis über die Fenster hinaufwuchsen.

Heute war es am ärgsten. Draußen pfiff und tobte es, daß es manchmal tönte wie gewaltige Orgelmusik, dann wieder wie mächtiges Läuten, das die ganze Welt erfüllte. Es ging schon gegen Mitternacht. Der Romedi war noch wach, während sich sein Bruder schon längst in die Federn begeben hatte. Der „Stoandlnarr“ lag in der kleinen Stube, in der er sich spät am Abend noch einmal bacherlwarm eingeheizt hatte, auf der Ofenbank. Neben sich auf einen Stuhl hatte er die kleine Petroleumlampe mit dem grünen Schirm gestellt und las eifrig im „Landboten“, einem Wochenblatt und zugleich der einzigen Zeitung, die sich der Romedi hielt. Nach seiner Ansicht kam das Blatt ohnedies viel zu oft heraus. „Alle Monat hätt’ sich’s auch than. Guat’s steht ja nie in a Zeitung drein. Und das Schlechte erfragt man früh g’nua. Und wenn der Papst oder der Kaiser stirbt, erfragt man’s ganz glei, da braucht man nachher überhaupt koa Zeitung!“

Deswegen war der Romedi aber doch neugierig, was in der Welt passierte. Da er seit einer Woche des schlechten Weges halber nicht mehr ins Dorf gekommen war, um sich seine Zeitung beim Posthalter abzuholen, las er mit einer gewissen Andacht den „Landboten“ von voriger Woche noch einmal durch, obwohl er ohnedies das Meiste schon auswendig wußte.

Bei dieser Beschäftigung begann er allmählich „einzuludeln“. Im Halbschlaf kam ihm das Gelesene alles durcheinander … die landwirtschaftliche Ausstellung und das beste Mittel zum Fleckputzen, eine Reise des Statthalters und ein Brand im Oberinnthal, Waldaufforstung und Tiroler Landstube. Zuletzt saß er mit dem Statthalter selbst beim Sternwirt drunten im Dorf und machte einen „damischen Perlagger“ (ein Kartenspiel), gewann dem „Erlenzherrn“ den letzten Knopf Geld ab und kaufte sich darauf beim Kramer Luis um zehn Kreuzer „Boxhörndeln“, wie die Tiroler statt Johannisbrot sagen. Plötzlich schreckte der Schläfer empor. War das nicht ein Schrei gewesen? Träumte er noch oder war es Wirklichkeit? Er richtete sich auf und lauschte angestrengt. Jetzt wieder ein vom Sturm halbverwehter Schrei! Der Romedi sprang mit beiden Füßen zugleich auf den Stubenboden. Nun war er vollkommen munter. Der Sturm machte eine kleine Pause. Er konnte ganz deutlich ein Wimmern vor seinem Hause vernehmen.

Ein Mensch befand sich in Not. Da galt es rasch hinaus! Er ergriff die Lampe, eilte durch den Hausflur zur Thür, schob den Balken zurück. Es gelang ihm nur mit Anstrengung zu öffnen. Hatte ihm das „Malefizwetter“ jetzt gar die Thür auch noch zugeschneit!

Mit einem kräftigen Ruck stieß er sie endlich auf. Ein schwerer Körper, der vor derselben gelegen hatte, rutschte dadurch in die Schneemassen vor der Hausthür zurück. Mit einem Satz war der Romedi im Freien. Er griff nach dem starren Körper. Ein Weib!

Und als er ihr ins Gesicht leuchtete, wollte ihm die Lampe schier aus den Händen fallen. Er umfaßte dieselbe krampfhaft. Im nächsten Augenblick verlöschte ein Windstoß das Licht. Der Romedi stellte die Lampe in den Schnee, hob das ohnmächtige Weib mit kräftigen Armen empor und trug es im Finstern in die Stube. Dann holte er die Lampe, schloß den Riegel vor der Thür, trat wieder in die Stube und machte Licht. Er zitterte so, daß er mehrere Schwefelhölzer anbrennen mußte, bis er den Docht der Lampe fand.

Er hatte das junge Weib in der ersten Bestürzung auf die Ofenbank gebettet. Jetzt schlich er auf den Zehen zu ihr und leuchtete ihr wieder ins Gesicht. Sie war es – die Emerenz! Die Augen hatte sie geschlossen. Ein schwaches Atmen hob ihre Brust. Ihre langen Zöpfe, die losgegangen waren, fielen von der Bank bis zum Boden nieder. Ihr Gesicht erschien in dem grünen Schimmer der Lampe nur noch bleicher.

Eine unsägliche Angst überkam den Romedi. unwillkürlich erfaßte ihn das dumpfe Gefühl, daß er an dem allen schuld sei. Und wenn sie jetzt sterben sollte, dann wäre er ihr Mörder!

Wieder und wieder hatte er seit jenem Tag an sie gedacht, als sie im Anger beim Praxmarerhof voneinander schieden. Und immer milder und versöhnlicher waren seine Gedanken geworden. Immer mehr hatte die Erinnerung an die wenigen schönen und lieben Stunden, die er mit ihr verlebt, die Einsamkeit und Verbitterung der nachfolgenden Jahre verscheucht. Oefter ertappte er sich bei der geheimen Absicht, die Emerenz doch wieder einmal aufzusuchen und zu fragen, wie es ihr gehe. Aber sie würde ihm ja schreiben, wenn sie etwas brauchte. Gespannt wartete er auf das erste Lebenszeichen von ihr – sie schrieb nicht. Da war noch einmal wilder Trotz über den Romedi gekommen. Was er für sie gethan, hatte sie vielleicht nur als etwas Selbstverständliches von dem ehemaligen Knechte hingenommen! Vielleicht lachte sie den „guat’n Lapp’n“ hinter seinem Rücken noch dazu aus!

Jetzt, als er auf das bleiche Weib vor sich niedersah, schämte er sich solcher Gedanken. Da war kein Hochmut mehr! Das war das Elend, gebrochen, niedergedrückt, mit einer stummen Bitte in den Zügen! Doch was stand er da, statt zu helfen! Ein Fieberschauer ging durch den Körper des jungen Weibes. Der Romedi rannte in die nebenliegende Kammer und brachte Bettzeug, in das er die zitternde Gestalt hüllte. Unter den Kopf schob er ihr ein Kissen. Er holte die Flasche mit dem Enzian aus dem Wandkasten, goß sich davon in die hohle Hand und rieb der Ohnmächtigen damit die Schläfen. Der scharfe Geruch mochte die Lebensgeister wieder anfachen. Das junge Weib that einige tiefe Atemzüge und schlug dann die Augen langsam auf. Erstaunt sah sie um sich. Sie schien sich erst langsam zurecht zu finden. Als sie den Romedi erblickte, flog eine jähe Röte über ihr Gesicht.

„Du bist da, Romedi?“ murmelte sie mit kaum hörbarer Stimme und versuchte ihren Kopf zu heben, ließ ihn aber gleich wieder kraftlos auf das Kissen sinken.

„Emerenz!“ sagte er, „mein armes Hascherl!“

Ein glückliches Lächeln verklärte ihre Miene. Daß er so gut zu ihr sprach, schien sie mehr zu stärken als alles andere.

Sie faltete langsam ihre Hände über der Brust und sah ihn geraume Zeit still und selig an. Er wagte nicht, zu sprechen. Es war, als ob auf leisen Sohlen ein Engel durch die niedere Stube schwebte, um den zwei hartgeprüften Menschenkindern himmlischen Frieden zu bringen!

„Bist mir nit bös, Romedi?“ fragte sie endlich scheu und kindlich.

„Warum soll i dir bös sein?“ entgegnete er, indem er ihre kalten Hände ergriff und sie in den seinen wärmte. Er fühlte es, wie sein Herz pochte, als ob etliche Hammerschmiede darin ihr Handwerk betrieben. „Wie kommst denn eigentlich bei dem Wetter da aufer?“ frug er.

Sie schwieg eine Weile, als ob sie sich’s erst überlegen müßte, wie alles zugegangen war. Dann antwortete sie mit fester Stimme. „Weißt, Romedi, mein Willen is ’s nit g’wes’n. I hab’ dir wahrhaftig meiner Lebtag nimmer unter die Augen kommen wollen. I kann wirklich nix dafür.“

„Ja, wo hast denn nachher hin wollen?“ fragte er.

„Das weiß i selber nit!“ bekannte sie. „Fort, in die Welt außi, nur fort von da! Weil’s mich nimmer g’litten hat mit all meiner Schand’ in deiner Näh’. I will dir nit lang’ lästig fallen“, meinte sie mit einem müden Lächeln. „Es geht schon wieder besser. I werd’ mich bald ausg’rastet haben, und dann mach’ i mich wieder auf’n Weg.“

„Also fort hast wollen?“ entgegnete er gedrückt.

„Ja!“ versicherte das junge Weib mit einer eigentümlichen Festigkeit. „I wär’ iatz schon über alle Berg’ aus, wenn i mich nit verirrt hätt’ und vom Weg abkommen wär’!“ Sie hatte sich von der Bank erhoben und stützte sich mit einer Hand an den Fensterbalken. „I weiß nur mehr, daß i nix mehr g’sehen hab’ vor lauter G’stöber und Sturm, daß i Reu’ und Leid erweckt hab’, weil i glaubt hab’, mein letztes End’ sei kommen. Dann hat sich alles um mich dreht, der Himmel, der Wald und die ganze Welt! I werd’ wohl hing’fallen sein im Schnee, weil i mich nimmer hab’ auf die Füß’ halten können – und z’letzt bin i da bei dir aufg’wacht. Eine flüchtige Röte flog über ihr Gesicht.

„Na, g’scheiter is ‘s doch, du bist da aufg’wacht, als du wärst draußen gar nimmer aufg’wacht!“ meinte der Romedi mit einem Anflug von Humor.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 890. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_890.jpg&oldid=- (Version vom 27.6.2019)