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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

Medicin wieder einzuführen versuchte, kam die Heilkunst, wie überhaupt die menschliche Vernunft, allmälig so herunter, daß nur noch mit Wallfahrten, Wundern, Magie, Reliquien, Amuletten, Teufelbannen, Exorzismen, kabballistischem Unsinn und dergleichen gegen Krankheiten zu Felde gezogen wurde. Auch von diesen Mitteln trifft man in der Jetztzeit noch manche an und wer weiß, was die Zukunft davon wieder bescheeren wird. – Die Araber, die Erben der übrig gebliebenen Reste griechischer Weisheit, sorgten zur damaligen Zeit für die Heilkunst nur insofern noch, als sie eine unsinnige Masse von Heilmitteln, bisweilen aus 60, 70 und mehr Ingredienzen zusammengesetzt (Theriak, Mithridat) erfanden und im Jahre 765 in Bagdad eine öffentliche Apotheke stifteten. Daß sie solche schreckliche Thaten thaten, wird man erklärlich finden, wenn man weiß, daß der berühmteste arabische Arzt, Ebn Sina (oder Avicenna) behauptete, der Arzt dürfe eben so wenig als der Priester die Vernunft anwenden. – Im 10. und 11. Jahrhundert befand sich die Heilkunst fast nur in den Händen der Mönche und bestand natürlich bei dem damaligen Hange zum Wunderbaren und Abenteuerlichen, größtentheils aus Aberglauben, selbst dann noch, als die medicinischen Schulen zu Salerno (wo die Aerzte zuerst den Titel Doctoren und Magister erhielten), Montpellier, Paris und Bologna gegründet waren. Die Aerzte des 14. Jahrhunderts traf übrigens damals schon ihres vielen Medicinirens wegen der Spott und die Verachtung ihrer vernünftigeren Zeitgenossen und Petrarca schrieb in einem Briefe, welchen man auch jetzt noch recht gut unterzeichnen kann, die Worte: „daß durch die Medicin im Allgemeinen mehr geschadet als genützt werde, daß das leichtgläubige Volk meistens betrogen werde und daß der Arzt nicht durch das Unglück Anderer sich bereichern solle.“

Als durch die Buchdruckerkunst im 15. Jahrhundert die Wissenschaften und Künste wieder aufzublühen begannen, blieben die meisten Aerzte doch immer noch blinde Nachbeter ihrer unwissenden Vorgänger und abergläubische Verehrer der von diesen empfohlenen Arzneimittel. Die meisten derselben glaubten noch, daß die Krankheiten durch den Teufel, durch Zauberer und Hexen entständen; sie hätten am liebsten durch Verbrennen und Ersäufen die Kranken radical geheilt. Daß bei solcher Dummheit und zu einer Zeit, wo die Astrologen (Nostrodamus an der Spitze) sowie die Alchymisten (Goldmacher) und Universalmedicin- oder Lebensessenzen-Brauer mit den Suchern nach dem Steine der Weisen ihr Pfeifchen schnitten, einer vernünftigeren Heilkunst nicht auf die Beine geholfen werden konnte, ist leicht einzusehen. – Im Anfange des 16. Jahrhunderts erschien als Stern für alle zukünftigen Arzneimitteljäger Theophrastus Paracelsus, der fanatischste Charlatan und Kabbaliste, den es je gegeben hat. Er bereicherte die Heilkunst mit Unmassen von Arzneikörpern, von Arcanis und Talismanen, und diese Bereicherung stieg in Folge der Entdeckung von Amerika und dem erwachenden Verkehr mit Ostindien in’s Unglaubliche. Selbst im 17. Jabrhunderte noch, wo die wichtigsten Entdeckungen in der Anatomie und Physiologie gemacht wurden, blieb die Heilkunst in den Banden des Mysticismus und Aberglaubens; Amulette, sympathetische, Geheim- und Universalmittel spielten neben Medicamenten aus der alten und neuen Welt eine Hauptrolle. Die Sucht, möglichst viele Stoffe in einer Arznei zu vereinigen, wurde nie höher getrieben als damals. Uebrigens waren bald diese bald jene Klassen von Arzneimitteln an der Tagesordnung. Es scheint wirklich, wenn man diese früheren Zeiten mit der jetzigen vergleicht, als ob die Heilkünstler stets der Wissenschaft zum Aerger und Hohne gelebt hätten, auch heute noch steht die Heilkunst weit hinter der Wissenschaft zurück, heute noch kommen die unsinnigsten Mittel bald in bald aus der Mode, heute noch suchen die Aerzte nach Arcanis. Uebrigens hörte man damals doch schon einzelne Stimmen behaupten (Guy Patin), daß durch manche Arzneien mehr Menschen umgekommen wären, als durch den dreißigjährigen Krieg. Am heftigsten eiferte gegen die damaligen Aerzte Harvey; er theilte dieselben in sechs Klassen: in Eisendoctoren, die vorzüglich Eisenmittel verordneten: in Eselsärzte, welche Schwindsuchten mit Eselsmilch zu heilen vorgaben; in Jesuitenärzte, die das schädliche Jesuitenpulver (China) gaben; in Wasserdoctoren, die alle Krankheiten mit Mineralwasser heilen wollten: in Fleischdoctoren, die Freunde der Blutentziehungen, und in Dreckdoctoren, die Empfehler der ausleerenden Mittel. Als um diese Zeit der Taback und Thee allgemeiner eingeführt wurde, boten sich die Gewinnsucht der Aerzte und der holländischen Kaufleute einander die Hand; so gab Bontekop folgende Lehre zur Verlängerung des Lebens: „rauche unaufhörlich Taback und trinke beständig Thee oder im Nothfall Kaffee, und bediene dich des Opiums, so oft dir etwas fehlt.“ – Im 18. Jahrhunderte findet man ein buntes Durcheinander von Heilmethoden; hier mußten die Kranken bei dem einen Arzte schwitzen, beim andern Blut lassen; Der vomirte, Jener purgirte; was dem Patienten fehlte, wußten sie natürlich alle zusammen nicht. Die Heroen dieser Zeit sind Hoffmann, Stahl und Stoll. Fr. Hoffmann erwartet sehr viel von der Naturheilkraft, war ein großer Freund der diätetischen Behandlung und namentlich der äußern und innern Anwendung des Wassers; Stahl dagegen hielt auf Ausleerungen durch Schweiß und verordnete Aderlässe, Brech- und Purgirmittel; er verkaufte übrigens nebenbei, wie auch Fr. Hoffmann, verschiedene Arcana und führte die unsinnigen Präservativaderlässe ein. Stoll, der den Grund der meisten Krankheiten in einer Gallenveränderung und in Unreinigkeiten im Bauche suchte, kurirte fast nur mit Brech- und Purgirmitteln; Brown und Girtanner kämpften bei einer Krankheit immer nur entweder gegen heftige Erregung oder gegen Schwäche; ähnlich kurirte Rasori. – Das 19. Jahrhundert zeichnet sich bis jetzt noch durch keine rationellere Heilkunst vor dem achtzehnten Säculum aus; im Gegentheile, hier schossen und wachsen noch jetzt eine Menge der widersinnigsten Heilmethoden, geheime und Apothekermittel, zur Praxis berechtigte und unberechtigte Heilkünstler, kalte und warme Wasseranstalten zusehends empor, trotzdem daß die medicinische Wissenschaft eine ganz bedeutende Höhe erreicht hat. Während zu Anfang dieses Jahrhunderts in Frankreich Broussais fast alle Krankheiten einer Magen- und Darmentzündung, wenigstens einer Entzündung zuschrieb und deshalb alles mit Blutentziehungen kurirte, betrachtete man (die sogen. naturhistorische Schule) in Deutschland die Krankheit als ein für sich bestehendes Etwas, als eine feindliche Macht, ja sogar als eine parasitische Person, die sich mit der Lebenskraft unseres Organismus, wie Engel und Teufel um unsere Seele stritten. Der Engel bemüht sich (wie Henle sagte) seinen Gegner todtzuschlagen und dessen sterbliche Reste aus irgend einer der natürlichen Oeffnungen unseres Körpers hinauszuschmeißen; ihm muß natürlich vom Arzte beigestanden werden. Häufig unterliegt aber der Engel, trotz des Beistandes von Seiten des Arztes. Noch jetzt giebt es solche naturhistorische Heilkünstler und diese forschen fortwährend nach neuen Waffen (Arzneimitteln) und entwerfen Schlachtpläne (Heilmethoden), um die feindliche Krankheit zu überrumpeln und mit Pulver und Blei oder mit Kartätschen (Pillen) zu vernichten. – Um die allgemeine Confusion im Reiche des Aesculap vollständig zu machen (sagt Steudel in seiner, auch vom Laien lesenswerthen Schrift: „die medicinische Praxis, ihre Illusionen und ihr Streben zur Gewißheit,“ sehr gut), erschien nun die Homöopathie und stellte Grundsätze auf, welche aller Erfahrung und dem gesunden Menschenverstände Hohn sprechen, und nur der Umstand, daß es in der Heilkunst noch nie einen Unsinn gegeben hat, der nicht seine Vertheidiger und Anhänger gefunden hätte, läßt es begreiflich erscheinen, daß es Männer gab und noch giebt, welche glauben, daß ein Naturgesetz, welches keine Ausnahme macht, unwahr sei für die Arzneimittel, indem sie annehmen, daß deren Wirksamkeit mit ihrer Verdünnung und Abnahme gerade an wirksamem Stoffe zuzunehmen fähig sei. Doch hat die Homöopathie trotz ihrer unsinnigen Grundprincipien das Gute gehabt, daß sie zeigte, wie viel durch bloße diätetische Behandlung, ohne alle Medikamente, zu erreichen sei. Es ist übrigens sehr zu bedauern, daß Hahnemann bei der Verkleinerung der Arzneigaben nicht noch einen Schritt weiter ging und die letzte Täuschung fallen ließ, welche in den Pülverchen und Kügelchen besteht, womit den Kranken der erforderliche Sand in die Augen gestreut wird. Wir wären heute weiter und brauchten nicht vor Hahnemann’s Denkmal die Augen niederzuschlagen, wenn dieser Mann damals schonungslos die Wahrheit ausgesprochen hätte, daß unser ganzer Arzneischatz unnützer Kram sei. So aber wächst die Heilkünstelei mit Arzneimitteln zusehends, die Heilkünstler bringen sich durch ihre fortwährenden Widersprüche und den schnellen Wechsel ihrer Systeme immer mehr um den Credit und aller Orten tauchen jetzt Feinde der legitimen Heilkunst als wassersüchtige Heilkünstler, trockene Semmeldoctoren, Magnetiseure, Geheimmitteler, Somnambulen, Kräuterweiber u. s. f.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 41. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_041.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)