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und dabei war das Geplauder seines Kindes ihm hinderlich, denn er besang weit lieber sein Vaterglück, als daß er es einfach genoß. Und zu ihrer Mutter konnte Leonie gleichfalls nicht flüchten, denn diese las einen Roman, wenn ihre Freundinnen verfehlten, sich mit ihr um einen Kartentisch zu versammeln. – Indessen die Kleine neben der Dienerin auf einem Fußbänkchen hockte und ihr ein Gemüse auf den nächsten Tag vorrichten half, stürmte die Frau Pastorin zu ihrem Gatten in das Zimmer und ließ Magd und Kind zu denken übrig, was der Gegenstand ihres laut und heftig geführten Wortwechsels sein möchte. –

Als ein paar Tage darauf Auguste Liebig im Garten beschäftigt war um ein Wintergemüse schneiden zu lassen, trat der Herr Pastor an die Hecke, die ihr Gebiet von dem seinigen trennte, und ihr durch dieselbe die Hand bietend, sagte er mit seiner stets etwas belegten Stimme: „Nur so darf ich Sie jetzt noch begrüßen, theure Nachbarin; denn ich bin mit meiner Frau vor den Tisch des Herrn getreten und habe das heilige Abendmahl darauf genommen, daß ich nie wieder Ihr Zimmer betreten wollte, sobald Sie dort mit unsern Kindern allein wären.“

Auguste bedauerte, daß es zu neuen Erörterungen gekommen, deren unschuldige Veranlassung sie war. Daneben gewährte es ihr aber zugleich eine Beruhigung, daß ein heiliges Gelübde ihren Nachbar jetzt verpflichtete, sich aller unvorsichtigen Aeußerungen zu enthalten, und ihr durch sein Lob keine Dornen auf ihren Pfad zu säen, an denen ihr Fuß sich täglich erneuerte Wunden ritzen mußte. – Die Kinder blieben indessen ungestörte Gefährten und das äußere Vernehmen beider Familien litt gleichfalls auf keine Weise. So oft die Frauen zusammenkamen, und das geschah freilich nur höchst selten, überschüttete die Frau Pastorin ihre Kollegin mit den größten Lobeserhebungen und Schmeicheleien und konnte der Worte nicht genug finden, um ihr Dankgefühl auszudrücken. Unter den Männern war keine Rede von diesen Dingen. Der Herr Präpositus gab nicht Acht auf solche Kleinigkeiten und Auguste trug ihm nie vor, was er nicht besonders zu wissen begehrte. Er wurde überhaupt schon älter und abgestumpft gegen manche Dinge. Sein Amt und seine Sonntagspredigt waren Leistungen, die ihm schwer wurden, und die Rede ging von einem Adjunctus, eine Anordnung, gegen die er sich aber noch aus allen Kräften sträubte; denn er hoffte einen seiner Söhne, der Theologie studirte, einzuschieben und ihm auf die Art zu einem Amte zu verhelfen. –

Die Jahre schwanden dahin, ohne daß in beiden Familien irgend eine Veränderung vorgegangen wäre, außer daß die Kinder größer wurden. – August war nun nicht mehr der kleine August, er war ein stattlicher Knabe, der seine freien Stunden nicht allein einem Mädchen widmete, sondern mit Gefährten seines Alters Ballschlagen und Schlittschuhlaufen ging, und es an körperlichen Uebungen zur Entwicklung seiner Kräfte nicht fehlen ließ. Seine Mutter bestärkte ihn gerne darin. Der Körper sollte der Träger des Geistes sein, wie also konnte man diesen als eine Nebensache betrachten? – Sie hatte den Emil von Rousseau aufmerksam gelesen und sich danach einen Plan für seine Erziehung entworfen, in dessen Ausführung sie mit großer Konsequenz verfuhr. Der Knabe erwarb daher manche Kenntnisse der praktischen Dinge des Lebens, der Handwerke und mechanischen Beschäftigungen, die sonst den Kindern fremd bleiben, die dem Gelehrtenstande bestimmt sind. Leonie theilte jede Unterweisung der Art mit ihm. Was er lernte, das wünschte auch sie zu wissen, und wieder war es ihm die größte Befriedigung, sich ihr gegenüber geschickt und anstellig zu zeigen, damit sie durch sein Beispiel besser noch belehrt werde, als durch irgend eine Anleitung. Beide Kinder liebten sich zärtlich. Der stärkere ältere Knabe drückte seine Zuneigung dadurch aus, daß er sie beschützte; sie dagegen blickte zu ihm auf, wie zu einem höhern Wesen, dem sie Verehrung schuldig war, und was sie that und leistete, geschah meistens in dem Sinne, ihm zu gefallen.

Auguste Liebig hatte die Zeit herannahen sehen, wo sie ihrem Sohne nicht mehr alleinige Lehrerin sein durfte und sich darauf vorbereitet, dies Amt zu theilen. Sie suchte und fand einen tüchtigen Hauslehrer und es gelang ihr, einige andere Knaben im Orte dafür zu gewinnen, den Unterricht desselben zu theilen, so daß die Kosten nur in einem kleinen Maße auf sie fielen. Der Herr Präpositus ließ ihr hierin ganz freie Hand, denn sie hatte sich in dem Dutzend von Jahren ihrer Ehe so durchaus als brav und zuverlässig bewährt und ihm so Manches durch Ersparung eingebracht, daß er unmöglich ihren Wünschen in Bezug auf ihr einziges Kind eine Grenze ziehen konnte. – Der alleinige Punkt, der ihr bei dieser Veränderung in ihrem Erziehungsplane Schwierigkeiten machte, war Leonie. – Sie hatte das Mädchen lieb wie eine eigene Tochter und mochte nicht daran denken, sie zu entfernen; und andererseits sah sie ein, wie wenig dann für das Kind geschehen würde. Sollte sie nun vorschlagen, sie an einem Unterrichte Theil nehmen zu lassen, der ganz in das Gebiet streifte, welches einem männlichen Wissen als Vorbereitung dient? – Sie that es. Nach reiflicher Ueberlegung schien es ihr, als könne daraus kein bedeutender Nachtheil erwachsen, während er im andern Falle gewiß war. So wurde Leonie denn mit vier Knaben in die Schulstube des Lehrers hinaufgesandt und lernte mit ihnen, was sie lernten.

Bevor diese Einrichtung getroffen wurde, nahm Auguste natürlich Rücksprache mit der Frau Pastorin; diese erklärte sich jedoch völlig einverstanden mit jedem Plane, der ihre Tochter in so guten Händen ließ. Sie fand es zu bequem, die Sorge für deren Erziehung auf andere Schultern zu wälzen, um hier einschreiten zu wollen.

„Es ist doch wunderbar, Ludwig!“ sagte sie zu ihrem Gatten, „welcher Opfer eine Mutter fähig ist! – Dies einzige Kind, dieser theure Theil von meinem Selbst, dieser Trost meiner Augen, den entferne ich aus meiner Nähe, weil mir sein Wohl höher gilt, als mein eigenes Glück! – Meine Leonie erhält eine Bildung, wie sie nur selten einem Mädchen zu Theil wird; was ich dafür entbehre, darf ich nicht in Anrechnung bringen!“

Der Pastor Sommer freute sich so schöner Worte. Sie klangen seinem Ohre wohlthuend und ihr Sinn veranlaßte ihn zu einem neuen Sonett. – Seine Verse waren ja längst schon seine einzige Lebensfreude und je leidender seine Gesundheit wurde, je mehr bedurfte er des Trostes, sein innerstes Empfinden in stillen Stunden dem Papiere zu vertrauen. – Die Schätze, die sein Pult ihm verwahrte, die waren ja das einzige Leben, das er lebte, und die Dankbarkeit, die er auf dem Papiere aussprach für sie, die die eigentliche Mutter seines Kindes war, und die ihm durch so manche kleinen, still heimlichen Aufmerksamkeiten wohl that, ruhte dort, wie in einem verschwiegenen Grabe. – August hatte seinen vierzehnten Geburtstag gefeiert und sollte zum nächsten Osterfeste confirmirt werden. Damit war zugleich die Zeit herangekommen, wo er eine öffentliche Schule besuchen mußte und mit stillem Schmerze sah seine Mutter den Augenblick herannahen, wo sie ihr theures Kind den Wellen des Lebens zu übergeben gezwungen war. – Der Präpositus blieb diesmal kein stummer Zuschauer; er legte seine Lebenserfahrung in die Waagschale und bestimmte, daß der Knabe das Gymnasium in Rostock besuche, wohin er auch seine älteren Söhne gesandt; denn zahlreiche Verbindungen aus seinem eigenen Jugendleben befähigten ihn, den Knaben dort mit Empfehlungen zu versehen, die ihn in Familien einführten und ihm zu so genannten „Freitischen“ verhalfen, wodurch seine Existenz pecuniär sehr erleichtert wurde. Auguste hätte gern Einwendungen gemacht. Erstlich war die Schule dort nur mittelmäßig, und ihr Sohn hatte von der Zukunft kein anderes Kapital zu erwarten, als sein Wissen; und dann kränkte es sie in ihrer Seele, daß er in manchem Sinne das Brot der Gnade essen sollte. Sie hatte dem Knaben den Stolz der Unabhängigkeit anerzogen, der Niemand etwas verdanken will, als sich selbst; sie hatte ihn stets darauf hingewiesen, daß er der Schöpfer seines eigenen Glückes sein müsse und daß Entbehren schöner sei, als auf eine unwürdige Weise genießen. Und nun sollte sie den lachenden Uebermuth des Knaben dadurch brechen, daß sie ihn anwies, an einem fremden Tische sein Mittagsmahl einzunehmen, wo man ihn nicht als Gast empfing, sondern mitleidig als den armen Sohn eines armen Vaters beköstigte? – Sie seufzte schwer, wenn sie an den Moment dachte, wo ihrem Kinde dies Brot der Gnade gereicht würde. Sie seufzte schwer, aber ändern konnte sie hier nichts. Sie durfte nicht einmal äußern, daß sie ändern möchte, daß diese Einrichtung nicht ihren Beifall habe. – Alle ältern Söhne hatten denselben Pfad betreten, wie durfte sie gestehen, daß ihrem Kinde diese Art und Weise demüthigend sei? – Sie fügte sich daher in das Unabänderliche und waffnete sich mit Resignation. –

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 168. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_168.jpg&oldid=- (Version vom 17.10.2016)