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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

Rußland – mit allen Mitteln zu Lande, die Westmächte – mit allen Mitteln zur See, solcher Art scheint der Charakter des Kampfes werden zu wollen.

Rußland befindet sich dabei insofern im Nachtheil, als es die blühenden Städte seiner Küsten in der Ostsee und im schwarzen Meere den Händen seiner Feinde, dem theilweisen Verderben Preis gegeben sieht, und daß es für jedes der schlechten Pfänder, die es etwa zu Lande nimmt, befürchten muß, an seinen Küsten doppelte Revanche genommen zu sehen. In der vorigen Nummer der Gartenlaube zeigten wir den Lesern das bedrohte Reval in der Ostsee, heute führen wir ihnen Odessa vor. Odessa, die Königin des schwarzen Meeres.

Odessa ist, wie das ganze Kaiserthum Rußland, eine Schöpfung der Neuzeit. Vor nicht viel mehr als fünfzig Jahren war es hier noch kahl und häuserleer, brandete das Meer an eine unbewohnte Strecke, die erst durch den Frieden von Jassy an Rußland abgetreten wurde. Die Kaiserin Katharina II. erkannte schnell die Wichtigkeit dieser Lage zwischen den Mündungen des Dniestr und Dniepr, und legte 1794 den Grund zu der Stadt Odessa.

Odessa.

Zu ihrer vollen Bedeutung erhob sich jedoch die schön und regelmäßig erbaute Stadt erst unter dem Kaiser Alexander, und zwar durch die Fürsorge des zum Gouverneur von Odessa ernannten Herzogs von Richelieu, der somit auch als der eigentliche Begründer Odessa’s betrachtet wird. Nicht minder als der Herzog von Richelieu ließ sich Fürst Woronzow die Wohlfahrt Odessa’s, wie überhaupt aller russischen Häfen am schwarzen Meere, angelegen sein. Unter ihm nahm Odessa einen unerwarteten Aufschwung, und er auch war es, durch dessen Sorge die öden Umgebungen der Stadt in zum Theil blühende Strecken umgeschaffen wurden. Gegenwärtig zählt Odessa mehr als 70,000 Einwohner, und erinnert uns in seinem allmäligen Aufsteigen an die Entstehungsgeschichte so vieler amerikanischer Städte.

In den von verschiedenen Festungswerken geschützten Häfen können bequem und sicher 300 Schiffe liegen; die Zahl der ankommenden und abgehenden Schiffe beläuft sich jährlich auf etwa 2000, und ist hauptsächlich seit 1817, wo der Hafen auf dreißig Jahre zu einem Freihafen erklärt wurde, bedeutend gestiegen. Die Bevölkerung Odessa’s bildet ein Gemisch der verschiedensten Nationen; Franzosen. Engländer, Deutsche, Italiener, Griechen, Armenier, Juden trifft man hier in Masse, und in ihren Händen befindet sich auch der gesammte Handel, der vorzugsweise in der Ausfuhr von Weizen nach allen Ländern Europa’s besteht.

Dieser Getreidehandel ist es ganz wesentlich, dem Odessa seine Wichtigkeit, sein Aufblühen, seinen Reichthum verdankt, und um ihn hier immer mehr zu concentriren, hat die russische Regierung kein Mittel unversucht gelassen. Die begünstigte Versandung der Sulinamündung, worüber die handeltreibende Welt seit vielen Jahren Klage führte, und die England zu zahlreichen Vorstellungen in Petersburg veranlaßte, gehört zu diesen Mitteln.

Die Getreideausfuhr längs der Donau herab aus Bulgarien, der Moldau-Walachei, und selbst Ungarn wurde dadurch ungemein erschwert, und Odessa wirklich auf gewaltsame Weise der Bestimmung näher gerückt, das einzige Entrepot für den Getreidehandel im schwarzen Meere zu werden. Im Jahre 1847 repräsentirte die Ausfuhr einen Werth von ca. 35 Millionen Silberrubel.

Der Krieg, des Handels und Verkehrs bitterster Feind, hat Odessa in seinen ersten Wirkungen bereits getroffen, indem die russische Regierung selbst alle Getreideausfuhr streng verboten hat; das von englischen und französischen Schiffen geladene Getreide hat sogar wieder ausgeschifft werden müssen, und alle Fahrzeuge sind mit Aufsichtswachen besetzt worden. Die so dem Handel zugefügten Nachtheile sind außerordentlich, und werden, wie in Odessa, so in allen Küstenstädten des russischen Reiches den Krieg verwünschen machen, der, wenn auch nicht mehr so barbarisch geführt, daß man offene Städte in Grund und Boden schießt, doch immer noch den Ruin derselben in seinem Gefolge hat. Mehr als je scheint Odessa in diesem Augenblicke bedroht, wo die wiederum in’s schwarze Meer eingelaufenen englisch-französischen Flotten, wie es heißt, der reichen Handelsstadt einen Besuch zugedacht haben.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 183. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_183.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)