Von den Ufern der Ostsee

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Titel: Von den Ufern der Ostsee
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aus: Die Gartenlaube, Heft 15, S. 170–172
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Reval, Stadt in Estland
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Von den Ufern der Ostsee.

Schon einmal, in Nr. 35 des vorigen Jahrganges der Gartenlaube, boten uns die russisch-türkischen Verwickelungen, wie man damals, wo noch kein Schuß gefallen war, noch sagen konnte, Anlaß, die Blicke der Leser von der Donau weg nach der Ostsee zu lenken. Wir wiesen beim etwaigen Ausbruch eines Krieges zwischen Rußland und den Westmächten auf die Wichtigkeit des Sundes und der Ostsee hin, wo wie im schwarzen Meere die Küsten Rußlands den Angriffen seiner überlegenen Feinde zur See ausgesetzt blieben. Seitdem sind sechs Monate verflossen, während welcher sich die europäischen Großmächte, wenn auch mit Widerwillen, Woche um Woche dem Kampfe näher zugedrängt sahen, und heute endlich segelt eine englische Flotte, mächtiger als je eine vorher die Küsten Englands verließ, in der Ostsee. Ein neuer Schauplatz eröffnet sich damit für unsere bildlichen Darstellungen aus der Tagesgeschichte, ein Schauplatz, von welchem her bald blutige Nachrichten zu uns gelangen dürften, da dort die englische Flotte von einem Manne befehligt wird, dessen Auftreten bei früheren Anlässen zeigte, daß er kein langes „Federlesen“ macht.

Aus der Reihe der von den Engländern zunächst bedrohten Städte führen wir heute unsern Lesern Reval, die Hauptstadt des Gouvernements Esthland, vor, das wie sämmtliche an die Ostsee grenzenden russischen Provinzen durch kürzlich erschienene kaiserliche Ukasen bereits in Kriegszustand versetzt ist. Reval, Helsingfors mit Sweaborg und Kronstadt sind die drei Häfen im finnischen Meerbusen, welche der russischen Kriegsflotte zu Stationen dienen; sie beherrschen dadurch den finnischen Meerbusen, diesen vierzig Meilen langen und 51/2 bis 44 Meilen breiten Seearm, die Wasserstraße aus der Ostsee nach St. Petersburg.

Durch seine Lage der Ostsee am Nächsten gerückt und dadurch auch früher vom Eise befreit als die weiter rückwärts im finnischen Meerbusen gelegenen Kriegshäfen, dürfte Reval einem ersten Angriff der englischen Flotte ausgesetzt sein. An einem schnellen Handeln Admiral Napier’s ist dabei nicht zu zweifeln, indem es für ihn von Wichtigkeit ist, die Vereinigung der in Reval, Sweaborg und Kronstadt vertheilt liegenden russischen Kriegsflotte, die dann keinen zu verachtenden Gegner bilden würde, zu verhindern. Wie die von dem in Reval commandirenden russischen General Berg getroffenen Maßregeln beurkunden, macht man sich auf einen solchen Angriff gefaßt; alle Festungswerke sind vollständig auf den Kriegsfuß gestellt, die Beleuchtung der Leuchthürme findet nicht mehr statt. Vorkehrungen zum Löschen im Fall eines Bombardements werden bereits getroffen und viele Einwohner denken wohl schon selbst an Flucht aus der bedrohten Stadt in das Innere des Landes.

Die anderthalbtausend Feuerschlünde, welche Napier mit sich führt, sind allerdings keine erfreuliche Aussicht, allein damit ist noch immer nicht gesagt, daß ein Angriff auf Reval ein ganz leichtes Stück Arbeit sei. Die Stadt ist mit gewaltigen Festungswerken versehen, große kasemattirte Batterien decken den Hafen, vor dem sich im Meere die berühmten Kesselbatterien befinden, und mörderische Kreuzfeuer erwarten den kühnen Angreifer. Die ebenfalls vor dem Hafen liegende Insel Nargö ist mit besondern Vertheidigungswerken versehen, die das Annähern feindlicher Flotten noch mehr erschweren.

Ungleich stärker noch als Reval ist das ihm acht Meilen weiter nördlich gegenüberliegende Sweaborg, mit Recht das nordische Gibraltar genannt, welches den Hafen von Helfingfors deckt. Die in Felsen gehauenen oder von Granit-Quadern gebauten und meist kasemattirten Batterien der Festung Sweaborg umfassen sieben kleine Inseln. Diese Werke enthalten zwei bis drei Reihen Kanonen übereinander, im Ganzen zusammen 2000 Stück Geschütz. Der von den Schweden, die damals noch Herren Finnlands waren, 1748 unternommene Bau erforderte zehn Jahre, und Sweaborg galt für unüberwindlich. Gleichwohl fiel es 1808 nach kurzer Belagerung [171] in die Hände der Russen, so daß man, in Anbetracht der Stärke der Festung, sich nicht des Gedankens an einen Verrath Seitens des schwedischen Commandanten Kronstedt erwehren kann.

Um auf Reval zurückzukommen, so dürften seine, wenn auch im Vergleich zu Sweaborg schwächern, so doch immer noch starken Festungswerke zuletzt gleichwohl nicht hinreichen, Reval vor dem Schicksale Sinope’s zu schützen, und ihm einen jener harten Schläge zu versetzen, unter denen es schon mehrmals in frühern Kriegen empfindlich gelitten hat. In seiner höchsten Blüthe stand Reval zur Zeit als die deutsche Hansa, der es angehörte, in den nordischen Wässern ihre unbestrittene Macht übte; jetzt beträgt die inzwischen wieder gestiegene Zahl der Einwohner etwa 24,000, die sich meistens vom Handel nähren, da Reval noch immer einer der bedeutendsten Handelsplätze der russischen Ostseeküsten ist. Esthland, obwohl nicht zum Besten angebaut, liefert dennoch einen bedeutenden Ueberschuß von Landesproducten, namentlich Getreide, das über Reval ausgeführt wird. Die Einwohner gehören den verschiedenen Nationen an, unter deren Herrschaft Reval wechselsweise stand. Der Großhandel (und die Großhändler spielen in Reval die erste Rolle) ist in den Händen der Deutschen und Schweden; den Kern des Handwerkerstandes bilden ebenfalls Deutsche und Schweden nebst Dänen; die Stammbewohner des Landes, die Esthen machen die niedrigsten Schichten der Bevölkerung aus; das russische Element, stark durch das Beamtenthum, findet sich endlich in allen Schichten vor.

Reval.

Angesichts der Ereignisse, die sich in der Ostsee vorbereiten, und die uns noch öfter Gelegenheit bieten dürften, unsere Leser an die Gestade derselben zu versetzen, halten wir einige kurze Notizen über die russischen Ostseeprovinzen nicht für überflüssig. Man begreift darunter Kurland, Livland und Esthland, die jetzt jedes ein russisches Gouvernement bilden, und zusammen an Flächenraum etwa den drei deutschen Königreichen Baiern, Sachsen und Würtemberg gleich kommen, dabei aber nur eine Bevölkerung von höchstens 2 Millionen Seelen zählen.

Das Schicksal dieser drei Provinzen war von Alters her ziemlich ein gemeinsames. Bremer Kaufleute besuchten im zwölften Jahrhunderte zuerst diese Gegenden, ihnen folgten die Dänen, welche das Land eroberten und der Bevölkerung den christlichen Glauben aufzwangen. Im 13. Jahrhundert, wo die deutschen Ordensritter sämmtliche baltische Länder besaßen, erwarben sie durch Kauf die ein Jahrhundert früher von Dänemark gemachten Eroberungen und nahmen ihre sämmtlichen Besitzungen, Kurland, Livland und Esthland inbegriffen, vom Kaiser und Reich in Lehen. Von der Mitte des 16. Jahrhunderts an begannen die Angriffe der Russen auf die Ostseeländer, die Macht des deutschen Ordens war gebrochen, und die bedrängten Völker wandten sich um Schutz an Schweden, das auch die Herrschaft antrat, bis von Peter den Großen an die Vereinigung mit Rußland bewerkstelligt wurde.

Im Jahre 1848, wo so viel von einem einigen großen und freien Deutschland gesprochen und geträumt wurde, tauchte in einzelnen Köpfen wohl auch der Gedanke auf, die Grenzen des deutschen Reichs müßten am finnischen Meerbusen sein. War doch das Land einmal von Kaiser und Reich in Lehen gegeben worden, hatten doch Reval und Riga zur deutschen Hansa gehört! Und richtig ist es auch, daß die russischen Ostseeprovinzen seit Jahrhunderten durch deutsche Kultur und Wissenschaft im Verbande mit Reval der civilisirten Welt erhalten blieben, daß Alles was dort von Bildung vorhanden ist, deutsch ist, daß die Städte wesentlich deutsche Elemente in sich schließen, und der Grundbesitz fast ganz in Händen deutscher Familien ist.

Dies ist Alles richtig, allein als wirklich deutsche Länder möchten diese Provinzen darum nicht zu betrachten sein, da eigentlich nur die wohlhabendern Klassen und der Adel deutschen Ursprungs sind. Letzterer, der das Land eroberte, ist auch einziger Grundbesitzer, und hat seine Bauern zumeist in Zuständen zu erhalten gewußt, gegen welche die in Pommern bestehenden noch sehr erfreuliche genannt werden können. Unter den deutschen Bewohnern der Städte herrscht hinwiederum im Durchschnitt jener Zopfgeist, wie wir ihm bei den Spießbürgern ehemaliger deutscher Reichsstädte so häufig begegnen. Kurz, die Ostseeprovinzen sind in ihrem Kulturgange hinter Deutschland so gewaltig zurückgeblieben, daß das Band nationaler Sympathien zwischen beiden zerrissen ist, und so wenig als man in Deutschland ernstliche Gelüste nach jenen Provinzen irgendwie verspürt, ebensowenig sehnen diese sich nach dem Verbande mit Deutschland; Kurland hängt [172] noch am meisten an Deutschland. Die Anstrengungen Rußlands, alle diese gewonnenen Provinzen so viel wie möglich zu russificiren, haben reichliche Früchte getragen, und in den Gesinnungen dieser Völker dürfen die Feinde Rußlands keinen Beistand gegen das gewaltige Reich zu finden hoffen. Als Befreier würden hier die Engländer nirgends empfangen werden. Der Standpunkt, welchen die den Ton angebenden Klassen des Landes einnehmen, wird ganz richtig durch das von ihnen selbst gebrauchte Sprüchlein bezeichnet:

Rußland, um uns zu schützen,
Der Bauer, um uns zu nützen,
Deutschland, um dort zu sitzen. [1]


  1. um dort zu leben.