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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

beiwohnenden Menschen. Die rohesten, hartgesottensten Männer fühlten sich ergriffen, die Frauen weinten und schluchzten laut, darunter besonders eine, die bei allen Verhören zugegen gewesen und den Graf Luckner stets mit dem größten Interesse beobachtet hatte.

Diese eine Dame, die durch ihre Theilnahme für den Angeklagten bereits zum Stadtgespräch, und in dieser letzten Sitzung der Assisen das Augenmerk aller Anwesenden geworden, war die einzige Tochter des bekannten bonapartistischen Generals Lagrange, die Baronin Stephanie, die von einer befreundeten Familie für den Prozeß importirt und in die erste Verhandlung desselben mitgenommen, bald eine heftige Leidenschaft für den so gräßlich Beschuldigten in sich hatte entstehen fühlen.

Sie hatte gleich nach der ersten Session anonym an Emil Luckner geschrieben und ihm mitgetheilt, wie sie ganz gewiß von seiner Unschuld überzeugt sei und den festen Glauben besitze, ihn freigesprochen zu sehen. Nach der dritten, vierten und fünften Verhandlung wiederholte sie diese Versicherungen, die nun vernichtet zu finden, sie auf das Höchste betrübte. In Thränen aufgelöst, verließ sie den Saal, um von da sogleich zu Emil in das Gefängniß zu fahren.

Graf Luckner hatte sie nie gesehen, und war nun erstaunt, unter den mit Bedauern zu ihm drängenden Freunden auch eine fremde Dame von distinguirtem Aeußeren zu finden, die ihn ersuchte, ein paar Worte mit ihm allein sprechen zu dürfen.

Nachdem die Freunde sich unter Beileidsbezeugungen[WS 1] aller Art von ihm entfernt, entdeckte sich diese Dame ihm nun als Schreiberin jener anonymen Briefe, dabei versichernd, daß sie noch immer trotz der Schulderklärung der Geschworenen an seine Unschuld glaube, und bereit stehe, mit ihm zugleich nach Brest zu gehen, dort, so viel es gehe, sein schreckliches Loos zu erleichtern und mit ihm des Tages zu harren, an dem einst seine Enthebung von dem ihm zur Last gelegten Verbrechen erfolgen müsse.

Man kann sich denken, wie gerührt Graf Luckner von den Worten und dem Benehmen der Dame war und wie flehentlich er sie bat, ihn seinem Schicksale zu überlassen und von ihrem Vorhaben abzustehen. Allein, wie vergebens das Alles war, bewieß am Besten, daß man Baronin Stephanie zugleich mit dem Zuge der eingeschmiedeten Galeerensclaven Paris verlassen und nach Brest abreisen sah.

Briefe und Zeitungscorrespendenzen aus dieser letzteren Stadt meldeten bald darnach, daß man täglich eine schöne und elegante Dame in der Freistunde der Sträflinge nach dem Lager kommen und dort viel mit einem in Eisen geschlossenen jungen Manne verkehren sehe, der wegen eines Raubmordes zu lebenslänglicher Galeerenstrafe verurtheilt sei. Man schilderte auf das Rührendste die zarte Sorgfalt und Liebe, die sie dem Verbrecher beweise, und unterließ dabei nie zu bedauern, daß ein Heroismus so seltener Art keinem würdigeren Gegenstande gewidmet sei.

Da die pariser Journale, durch solche und ähnliche Briefe angeregt, sich veranlaßt sahen, die Sache ihrem wahren Verhältnisse nach zu schildern, so kam es bald, daß die ganze Welt über den Hergang in Kenntniß gesetzt und davon unterrichtet war, daß der Sträfling Niemand anders, als der ehemalige Graf Luckner, und die Dame, die schöne und geistreiche Baronin Lagrange sei.

Eine Menge Poeten griffen den Stoff auf und machten Novellen und Gedichte daraus. Auch George Sand soll davon zu einem ihrer besten Romane veranlaßt worden sein. Alles dies und Anderes hinderte aber nicht, daß man schließlich des seltsamen Paares vergaß und seine Aufmerksamkeit andern Geschichten und Tagesereignissen zuwieß. Im Jahre 1827 wenigstens gab es ohne Zweifel gewiß nur noch sehr wenige, die sich jener Mittheilungen und der Personen, von denen sie handelten, erinnerten. Dennoch war es gerade um jene Zeit, als dieselben plötzlich wieder in den Vordergrund zu treten begannen.

Der Fürst von Benevent nämlich, der noch während des Graf Luckner’schen Prozesses seinen Vater an einem Schlagflusse plötzlich und unerwartet verloren, war, nachdem er seine reiche Erbschaft in Italien angetreten und einige Jahre im Orient auf Reisen gewesen, nach Paris zurückgekehrt, wo er in der Rue du Bas ein großes Hotel bezogen und ein ansehnliches Haus zu machen begonnen hatte. Natürlich, und wie sich von selbst versteht, waren die früheren Genossen aus dem Luckner’schen Kreise wieder an ihn herangetreten, doch auffallender Weise nicht zuvorkommend und in der frühern Vertraulichkeit aufgenommen worden. Man fand im Gegentheil sogar, daß er diesen ehemaligen Kameraden lustiger Tage geflissentlich und wenigstens, so viel es ohne Anstoß zu erregen möglich war, aus dem Wege ging. Die große Welt und die Leute der Gesellschaft konnten, da der Fürst vorsichtig verfuhr und die im Geheim Gemiedenen bei seinen Bällen und großen Diners noch regelmäßig einzuladen pflegte, den Widerwillen gegen diese ehedem so geflissentlich aufgesuchten Freunde weniger bemerken, als es bei diesen selbst der Fall war, die sich aus seiner Intimität gedrängt sehend, gar wohl und zu ihrem Aerger inne wurden, daß sie an Ansehen und Gunst auf das Merklichste bei ihm verloren.

Am Meisten erboßt darüber war ein gewisser Edmond de Lavalle, ein Wüstling höchsten Grades, aber sonst ein Mensch von Geist und weichem Herzen. Dieser hatte, um hinter die Ursache der Abneigung zu kommen, welche der Fürst von Benevent gegen ihn und seine guten Freunde zu Tage legte, sich mit gutem Geschick an den alten Kammerdiener zu machen gewußt, welchen jener mit der Erbschaft seines Vaters zugleich in seine Dienste genommen.

Dieser Kammerdiener, ein ächter Italiener, war ein äußerst listiger und verschlagener Mensch, der den größten Einfluß auf seinen Herrn ausübte. Da er, wie die meisten Italiener, aber zugleich auch Eitelkeit und einen fast lächerlichen Ehrgeiz besaß, so liebte er es mit dieser Herrschaft über seinen Herrn zu prunken und von dem vornehmen Umgange desselben sich eine gewisse Aufmerksamkeit widmen zu lassen. Aus diesem Grunde kam es denn nun auch, daß die angelegentliche Mühe, die sich Edmond von Lavalle gab, ihn für sich geneigt und gestimmt zu machen, wirklich einen hohen Grad von Zuneigung für diesen in ihm entstehen mochte. Er ließ sich gern die Plaudereien dieses Cavaliers gefallen und war erfreut, wenn er ihm irgendwie dienen und sich in Folge dessen gelegentlich etwas gegen ihn, wie es in der Volkssprache heißt, herausnehmen konnte.

Nachdem dieses Verhältniß Jahr und Tag gedauert, kam Edmond von Lavalle einmal am Morgen im Hotel des Fürsten vor, um sich nach dessen Befinden zu erkundigen. Da er den Herrn des Hauses nicht vorfand, den Kammerdiener aber in sehr gesprächiger Laune traf, so ließ er sich mit diesem in eine launige Plauderei ein, in deren Verlauf er ihm auch von einem Scherze erzählte, den er sich mit einigen Freunden machen wollte, und zu dem er mehrerer anonymer und mit fremder Hand geschriebener Billete bedurfte.

Der zu allen Intriguen und Hintersteckereien stets bereite Italiener stellte sich ihm hier sogleich zu Dienst und warf, um seine Fähigkeit dafür zu beweisen, verschiedene Schriftzüge mit verstellter Hand auf ein gerade daliegendes Stück Papier. Edmond von Lavalle ihm dankend und versprechend, die Sache mit ihm weiter verhandeln zu wollen, steckte mechanisch die ihm gegebene Schriftprobe in die Tasche und empfahl sich.

Am Abend desselben Tages, beim Auskleiden, zog Lavalle dieselbe hervor und begann sie, im Bette liegend, rein nur, um noch einen Zeitvertreib zu haben, zu mustern. Bei dieser Musterung blieben seine Blicke, zuerst ihm selbst unbewußt, auf einigen der geschriebenen Worte hängen. Nach und nach, sie aufmerksamer betrachtend, kam es ihm vor, als ob er sie schon einmal auf irgend einem wichtigen Aktenstücke gesehen, doch konnte er sich durchaus nicht erinnern, auf welchem etwa. Nachdem er lange so vergeblich her und hingesonnen, löschte er endlich sein Licht, warf sich auf die Seite und sagte, sich selbst belächelnd. „Ach was! Wahrscheinlich sind es die Einladungen des Fürsten, auf denen ich diese Schrift gesehen!“

Mit diesem Machtspruche wollte er seinem Grübeln und Nachdenken ein Ende und die Einleitung zum Schlafe machen. und wirklich war er auch nahe daran zu entschlummern, als er plötzlich wie von einer Tarantel gestochen in die Höhe fuhr, in Eile wieder Licht anzündete und die Schriftzüge auf’s Neue in Augenschein zu nehmen begann. Kaum hatte er sie einen Augenblick angestarrt, als er aus dem Bett aufspringend, laut ausrief:

„Diese Schrift habe ich auf jenem Passe gesehen, den man bei Emil Luckner gefunden!“

Durch diese Entdeckung, er wußte eigentlich selbst nicht warum, ganz außer sich gebracht und des Schlafes beraubt, setzte er sich, da es zu spät war, noch irgend etwas in der Sache zu unternehmen, in eine Causeuse, sich ein Glas „Brandy and Water“ bereitend und eine Cigarre anzündend.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Beleidsbezeugungen
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 335. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_335.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)