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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Beide unendlich unglücklich; aber sie trugen ihren Kummer mit starker Seele und bewundernswerther Geduld. Tonietto verleugnete nicht einen Augenblick seinen edlen Charakter. Nie hatte er gegen Francesco auch nur einen Gedanken, geschweige ein Wort des Zornes, des Neides, der Geringschätzung oder des Spottes. Ja, wagten hier und da seine Kriegsgefährten eine spöttische Bemerkung über Francesco, so war er immer der Erste, offen für ihn Partei zu nehmen.

Vor all’ diesen Ereignissen waren sie Freunde gewesen, jetzt schienen sie Brüder. Jeden Augenblick kam Francesco, Tonietto aufzusuchen und ihn mit sich nach Hause zu nehmen; gern hätte er ihn den ganzen Tag dort behalten, und gerne ihn auch allein dort gelassen, wenn Tonietto eingewilligt hätte. Aber Tonietto ging nur des Abends hin, und nur in Gesellschaft Francesco’s. Dann blieb er kurze Zeit und beschäftigte sich fast nur mit den Kindern.

Mit Maria unterhielt er sich so ungezwungen und unbefangen, daß bald Jedermann, und Francesco vor Allem glaubte, daß Alles vergessen sei; und ich gestehe, ich selbst fing an, das zu glauben.

Eines Tages jedoch kam ich auf einem Spaziergange durch das Gebirge zufällig in die Nähe eines Weinbergs, der dem Vater Tonietto’s gehörte. Wie ich aus dem, denselben begrenzenden Kastanienwäldchen heraustrete, bemerkte ich plötzlich den armen jungen Mann vor mir, der sich offenbar an diesem abgelegenen Orte unbeachtet glaubte. Er saß, die Hacke zwischen den Knien, die Hände gefalten und müßig, das Haupt schwermüthig herabgesunken. Ich blieb stehen, um ihn zu betrachten, denn sonst hatte ich ihn immer rüstig an der Arbeit gefunden. Einen Augenblick fühlte ich mich befangen; es kam mir vor, als ob ich ein Unrecht begangen, unbefugt in seine Geheimnisse eingedrungen sei. Das Herz wurde mir schwer, und ich wollte mich zurückziehen. Aber mein Fuß stieß an ein paar dürre Zweige; er hörte das Geräusch, sprang lebhaft auf und rief mich zurück.

„Ihr seid ermüdet, lieber Tonietto,“ sagte ich.

„Sehr müde, ja, in der That,“ erwiederte er; „das kömmt daher, sehen Sie, weil ich das Hacken während meiner Dienstzeit ein wenig verlernt hatte; aber nach und nach wird das sich schon wieder geben.“

Wir waren Beide glücklich, die Unterhaltung auf dieses Gebiet ablenken zu können; und nie hat man ja größern Ueberfluß an Worten über ein Thema, als wenn man fest entschlossen ist, ein anderes nicht zu berühren.

„Aber ich denke,“ sagte ich, „das hattet Ihr ja doch in Sibirien wieder gelernt, bei dem Gutsherrn, der, Gott verzeih’ ihm, so grausam Eure Correspondenz unterschlug –“

Zu spät merkte ich plötzlich, daß ich unwillkürlich auf den Punkt zurückgekommen war, den wir Beide vermeiden wollten. – Er antwortete nicht.

„Giebt es viele Trauben hier?“ fing ich wieder an.

„Ja,“ erwiederte er.

Und damit ließ er die Unterhaltung fallen. Ich war zu weit gegangen, ich hatte mich getäuscht.

„Armer Tonietto! Ihr waret immer brav und bieder, in jeder Lage des Schicksals; Ihr waret ein guter Sohn und ein braver Soldat, heute seid Ihr ein guter Bürger, und wie immer, ein guter Sohn.“

Diesmal hatte ich das Richtige getroffen; Tonietto faßte sich sogleich:

„Ja, mein Vater,“ sagte er, „so ist es. Gottes Gebot sollen wir erfüllen und ertragen, was Gott uns schickt, seien es freundliche oder trübe Stunden, Sieg oder Vernichtung, ein Ehrenkreuz oder eine Kugel in der Schlacht, und jetzt ein gutes oder ein schlechtes Jahr, eine reiche Ernte oder Dürre und Hagel. Sie sehen, jeden Tag finde ich mehr Ähnlichkeiten zwischen meiner frühern und meiner jetzigen Beschäftigung.“

„Das ist wahr,“ erwiederte ich; „ich habe auch immer gehört, daß tüchtige Landwirthe die besten Soldaten sind. Aber Ihr waret ja nicht mehr blos Soldat, Ihr wäret ja nahe daran, Offizier zu werden; und wenn die Kugeln –“

„O!“ rief er, „wenn es nur die Kugeln gewesen wären.“ – Und er stockte.

Ich hatte wieder die Narbe berührt. Gleichwohl fuhr ich fort, ich hatte meine Absicht dabei.

„Sehnet Ihr Euch nicht nach dem Kriegsdienste zurück?“ fragte ich. „Das Schwerste war überstanden als Ihr den Dienst verließt: vielleicht könntet Ihr mit Vortheil wieder eintreten.“

Nun waren wir endlich auf freiem Gebiet; er sagte mir, er habe wohl daran gedacht und sich deshalb erkundigt; er habe aber keine andere Aussicht, als wieder als gemeiner Soldat einzutreten; man habe ihm zwar Hoffnung gelassen, daß er bald Sousoffizier und vielleicht auch Offizier werden könne; aber er hatte die Kraft nicht mehr, mit dem Anfang wieder zu beginnen. Hätte der Krieg fortgedauert, so hätte er zweifelsohne auf Beförderung hoffen können, wie bei seinem ersten Eintritt; im Frieden aber schien ihm nichts trauriger als das Soldatenhandwerk. Das Garnisonleben, selbst zu Paris, und bei der Garde, schien ihm unerträglich.

Außerdem hätte er seine Orden gegen andere, mit einem andern Brustbilde, umtauschen lassen müssen, wenn er wieder Dienste genommen hätte; auch dazu konnte er sich nicht verstehen. Konnte er doch schon das nicht verschmerzen, daß er die beiden Kreuze, die er selbst in Sibirien immer offen getragen, an der Grenze Frankreichs hatte verbergen müssen.

So blieb ihm, wie er sagte, nichts übrig, als bei seinem Vater, an dessen Seite Gott ihn zurückgeführt, zu bleiben, und ihn, so lange Gott wolle, zu pflegen, wenn er auch seiner nicht bedürfe.

Dann schien er unter der Last schmerzlicher Gedanken fast zu erliegen.

„Das ist gar traurig, Herr,“ seufzte er, „mit dreißig Jahren seine ganze Vergangenheit verschwinden und wie in Nichts zerfließen zu sehen. Mit dreißig Jahren beginnt man kein neues Leben mehr!“

Er hatte Recht; ich wollte ihm nicht beistimmen, aber widersprechen konnte ich ihm nicht. Ich wollte weggehen, er nahm mich bei der Hand; um sie zu drücken, oder um mich zurückzuhalten? Ich weiß es nicht. Dann nahm er seine Hacke auf die Schulter und ging mit mir nach dem Dorfe zurück.

Seit diesem Tage suchte er mich wieder öfter auf; wir verstanden uns und hatten lange Unterredungen mit einander. Er hatte nicht die Bildung, wie man sie durch Lectüre und Studium gewinnt; aber die Erfahrung und sein bewegtes Leben hatten ihm Geist und Herz entwickelt; nie habe ich einen Mann gefunden, in dessen Gesellschaft ich mich wohler gefühlt hätte als in der seinigen.

Armer Tonietto! Jene trostlosen Gedanken verfolgten mich unaufhörlich, ich konnte sie nicht mehr los werden; und wie sehr ich sie zu bekämpfen suchte, sie erdrückten uns Beide mit der trostlosen Macht der Wahrheit: sein Vater bedurfte seiner nicht, – und: mit dreißig Jahren beginnt man kein neues Leben mehr!

Seine Schicksalsgenossen litten an demselben Uebel wie er.

Die nur fünfundzwanzig Jahre alt waren, fanden sich leicht in die neuen Verhältnisse, und dachten nicht mehr an die Vergangenheit. Aber die mit dreißig Jahren zurückgekehrt waren, waren nicht mehr im Stande, ihre Gewohnheiten zu ändern; sie wußten nichts zu thun, als sich ängstlich an die Vergangenheit anzuklammern, und unaufhörlich zu klagen über die Gegenwart. Einzelne davon verloren ganz den Muth; plötzlich starben sie hin, ohne daß sie selbst eigentlich wußten, woran sie starben; sie starben aus Langeweile und Verzweiflung.

Ich rieth allen diesen Braven, zu heirathen; und, ohne auf die zu achten, die meine, wie sie es nannten, „Manie“ in’s Lächerliche zogen, trauete ich all’ diese Vielgeprüften; fast Alle schienen in den neuen Verhältnissen, die ihnen das Familienleben bot, glücklich wieder aufzuleben. Aber was sollte ich mit Tonietto anfangen? Ich wagte nicht, ihm offen zu sagen, was ich dachte, und er kam mir in keiner Weise entgegen.

Indessen versuchte ich es wiederholt, und mit allen erdenklichen Umschreibungen. Ein Mal verstand er mich, und sofort ging er kalt und mit einem Ausdruck des Mißbehagens, wie ich nie an ihm gesehen hatte, von mir weg ; wenigstens vierzehn Tage lang konnte ich ihn nirgends mehr treffen oder sprechen.

Und von Tag zu Tage veränderte er sich mehr und mehr; er magerte ab und seine Kraft schien gleichsam zu verlöschen. Es war keine Zeit mehr zu verlieren. Ohne etwas davon zu sagen, ging ich nach der Stadt, und erwirkte für ihn, von einem mir befreundeten Colonel, ein Patent als Sousoffizier. Froh kündigte ich ihm den Erfolg meiner Bemühung an; aber er dankte mir mit einem traurigen Lächeln; ich sah ein, daß in seinem geschwächten

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