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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

bereits frischgefallenen Schnee waten. In dem behaglich geheizten Zimmer des vor etwa zwanzig Jahren erbauten und höchstens vier Monate lang bewohnten Hauses fanden wir acht Reisegefährten, die seit Mittag vergeblich auf eine Aussicht gehofft hatten. Nach einem fast üppig zu nennenden Abendessen, was man in dieser enormen Höhe nicht erwartet, und dessen Bestandtheile nebst Holz und andern Lebensbedürfnissen täglich von zwölf bis fünfzehn Menschen tausende von Fuß hoch heraufgeschleppt werden müssen, legten wir uns im höchsten Grade ermüdet zur Ruhe. Wir waren zwölf Stunden lang beinahe ununterbrochen gestiegen und hatten dabei dann und wann die stärkende Wirkung eines kleinen Schlückchens Kirschwasser empfunden. Der freundliche Wirth machte uns auf den kommenden Morgen die zuversichtlichste Hoffnung.

Sie hat sich glänzend bewährt, und in diesem Augenblicke schweift mein Blick oft vom Papier durch das Fenster hinüber auf die in strahlender Morgensonne glänzende Kette der schneebedeckten Berner Alpen. Die Jungfrau und ihre Nachbarn, der Eigher, Mönch und die Silberhörner, schließen sich dicht an einander, während mehr links das finstere Schreckhorn und das alle überragende Finsteraarhorn sich mehr vereinzelt geltend machen. Und dabei tritt dies alles in seiner überwältigenden Majestät in der klaren Luft so nahe an uns heran, daß man mit einem Büchsenschuß eine Kugel in die glänzenden Falten des Gewandes der Jungfrau schicken zu können meint. Das Gefühl des Emporgerücktseins über das unruhige Treiben der Welt überkommt Einem hier oben mit unwiderstehlicher Gewalt. Das Auge sucht vergeblich nach dem unsichtbaren inneren Zusammenhange der es von allen Seiten umstarrenden Bergkolosse und dies vermehrt das Gefühl der eigenen Schwäche und zwingt zu Vertrauen in die kundige Führung, welche das Oben an das tiefe Unten durch verschlungene, oft kaum betretene Pfade zu knüpfen weiß. Ich überantworte mich mit meinen drei Reisegefährten dieser kundigen Führung, um mich nach Grindelwald führen zu lassen, dessen Ebene in unerkennbarer Kleinheit ihres Detail tief unter uns liegt. Mein ferneres Ziel sind die Aar- und der Rhonegletscher, welche den Charakter dieses starren Wasserlebens besonders rein ausgeprägt an sich tragen.

Ich schließe meinen Brief, nachdem ich noch einen letzten Abschiedsbesuch auf der Höhe hinter dem gastlichen Hause gemacht habe. Schwerlich dürfte es in Europa ein zweites Faulhorn geben, und meine Erinnerung an den Monserrat Cataloniens hat im Faulhorn einen gefährlichen Nebenbuhler gefunden. Während ich Obiges schrieb, hat sich der Nebel aus den Thälern gehoben und schwebt nur noch an der Nordseite des herrlichen Panorama’s als eine breite Zone lockerer blendend weißer Wolken längs dem jenseitigen Berggelände des Brienzer und des Thuner See’s, deren grüne Spiegel aus der Tiefe heraustauchten. Nach Süden das imposanteste Alpenbild, nach Norden das liebliche Durcheinander niedriger Berge und lachender Alpenseen – da ist das Zaubertheater des Faulhorns.






Besuch einer Großgeschäfts-Phalanstere zu London.

Jeder hat wohl seine Vorstellung von „London“, dem größten Städteungeheuer ohne Grenzen, gehüllt in ewigen Rauch, aus welchem die Kuppel der Paulskirche wie der Riesenkönig aller Hunderttausende von Schornsteinen hervorraucht, dem unentwirrbaren Labyrinthe von Buden und Geschäften, von Gasflammen, Backsteinen und Fenstern, Wagen, Kutschen, Karren, Droschken, Omnibussen, Spitzbuben, Ausrufern, Leierkasten, zerrissensten Lumpen und solidesten Krösusreichthums. Diese und ähnliche Ingredienzien bilden stets die Hauptbestandtheile in den verschiedenen Vorstellungen, die von London im Umlaufe sind.

Aber das ist noch lange nicht London. Man kann sich überhaupt von London eben so wenig eine Gesammtvorstellung machen, wie von Deutschland. Beide Größen, London und Deutschland, sind nichts im Allgemeinen, weil beide im Allgemeinen eben alles Mögliche sein können, sondern Alles im Besondern. Wer von London im Allgemeinen sprechen wollte, würde nicht aus der Verlegenheit herauskommen, eben so wie Jeder, der in Deutschland von einem großen, allgemeinen Deutschland spricht, nicht blos in Verlegenheit, sondern auch innerhalb neununddreißig verschiedener Grenzen in’s Gefängniß kommen kann. In Deutschland schützt die Polizei den Unterthanenverstand vor solchen Verirrungen in die Labyrinthe des Allgemeinen hinein, in London muß man sich selbst Schranken, Schloß und Riegel schaffen. Die Polizei fragt hier weder nach Stadt-, noch nach Vorstellungsmauern.

So irren und wirren sich die Straßen von London nach allen Seiten in’s Grenzenlose und bereits in ganz ferne Städte hinein, und Niemand weiß mehr zu sagen, wo es anfängt und aufhört. Aus Mangel an polizeilichen Bezirken schuf sich das Volk längst selbst Grenzen. Wie es nur den, der innerhalb der Schallstrahlen der „Bow“-Kirchenglocke in Cheapside (mitten in der City, unweit der Paulskirche) geboren ward, als „Cockney“ – oder echten Londoner anerkennt, schließt es auch, wenn es von „London“ im Allgemeinen spricht, jede Allgemeinheit aus und versteht darunter nur die „City“, den Mittelpunkt Londons, der sich mit einem Radius von etwa einer englischen Meile ziemlich kreisförmig um die Paulskirche herumlegt. Alle anderen Bestandtheile Londons haben zu ihrem allgemeinen Namen, der unter „London“ verschwindet, noch ihren bestimmten alten Dorf- oder Stadttitel beibehalten.

So gibt es ein „London Westminster“, ein „London Pimlico“, ein „London Camden Town“, ein „London Censington und Islington“ und ein Schock andere Londons, jedes eine Stadt mit 100,000 bis 3–400,000 Einwohnern. London ohne Nebentitel ist die City mit der großen, dicken, rauchverschleierten Paulskirchenkuppel in der Mitte, worin niemals Gottesdienst gehalten wird, da der Mammonsdienst in der benachbarten Börse und Bank und den umliegenden Großgeschäften auch alle unsterblichen Bestandtheile der Seelen ausschließlich in Anspruch nimmt.

Die City ist nur Großgeschäft, Weltbörse, Weltmarkt, Handel und Spekulation mit Schiffsladungen, Ernten, Produkten, Waaren und Fabrikaten großer Völker und Erdtheile. Niemand wohnt in der City außer den Katzen und den Haushälterinnen. Jeder ist blos jeden Tag von 10 bis 4 – 5 Uhr ein seelen- und herzlos getriebenes Rad (oder ein Zahn in demselben) seines Geschäfts und der Conjuncturen, in welche es durch das Eingreifen von tausend andrer Räderwerke, Kurbeln und Kolben gerissen wird. Um 5 Uhr gibt er erschöpft, seinen Schlüssel an die Haushälterin und ihre Katze ab, wirft sich in einen Omnibus, auf eine Eisenbahn, ein Dampfschiff, die alle jederzeit abgehen und ankommen, läßt sich so in seine Villa außerhalb treiben und fällt hier so über sein „Mittagbrot“ her, daß er bis 10–11 Uhr hingestreckt liegt, wie eine Boa-Constrictor, die einen großen Ochsen verschlungen. Am folgenden Morgen hat er nicht mehr Geist, als an sein Rasirmesser zu denken, sich zu schaben, in Vatermördern einzumauern und wieder in sein „Bureau“ zu eilen, wo er wieder bis 5 Uhr von der großen Geschäfts- und Welthandelsmaschine getrieben wird, daß ihm Hören und Sehen vergehen. Nur zuweilen fällt er rasend in eins der Frühstückslokale ein, um stehend mitten unter 2–300 andern stumm und stehend Essenden und Trinkenden ein fertiges, belegtes Butterbrot ungekaut zu verschlingen, ein Glas Flüssigkeit hinterher zu stürzen und dann mit verdoppelter Wuth hinter dem versäumten Geschäfte herzugapsen.

Aber um 5 Uhr schlägt ihm doch jeden Tag eine Erlösungs- d. h. eine Stunde, in welcher er sich noch zum Essen und Trinken setzen kann. Unterwegs und Sonntags bekommt er auch statt des Goldes und der Armeen von Zahlen zwischen öden, geraden Linien grüne Bäume und Blumen zu sehen und frische Luft einzuathmen.

Dieser Kaufmann und Diener des Großgeschäfts ist noch ein Glücklicher zu nennen, gegen die, welche sich in der City selbst mit Geschäft, Leib und Seele, Wohnung und Schlafstelle, polizeilicher Aufsicht und moralischer Controle mußten einschnallen lassen. Es ist eine verhältnißmäßig neue Erscheinung in der City, Großgeschäft und die Leute dazu mit Leib und Seele in

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 514. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_514.jpg&oldid=- (Version vom 5.3.2017)