Seite:Die Gartenlaube (1856) 531.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Stunden brach sie auf, um nach dem Fahrzeuge zu gehen, und Venedig wieder zu erreichen.

Wer aber beschreibt die Verlegenheit Aller, als sie eben kaum noch ihr Boot in der Ferne schwimmen sahen? – Die Schiffer hatten es leichtfertig nur auf den Strand gezogen, aber nicht weit genug, und die Flut hatte es losgespült und davon getragen. – Wäre es näher gewesen, man hätte es noch schwimmend erreichen können, allein daran war unter diesen Umständen nicht zu denken. Es war zu weit entfernt. Das Schlimmste aber war, daß die Klippe Grossa minore etwa zwanzig englische Meilen von Sabioncello entfernt, und keine der umliegenden Inseln bewohnt ist, daß die Mundvorräthe nicht mehr zu einem Mahle ausreichten, daß für die Nacht kein Schutz vorhanden war und – daß die Küstenstriche selten befahren werden. Nun hätte freilich die See ihre Reichthümer an Lebendigem geboten, sie vor dem Hungertods, zu schützen, aber es fehlte an Brennmaterial, sie genießbar zu machen. Sie hatten wohl auch Pulver und Gewehre, aber auf der Barke lagen die Vorräthe für eine ganze Woche, die die Gesellschaft hatte auf den Inseln hin und wieder verleben wollen; da lagen die Wolldecken, die Hängematten, die Mäntel u. s. w. – und das Alles war weg und für immer und sie saßen auf der Klippe, ohne Schutz gegen Sonne und Nachtkälte und ohne Aussicht, bald erlöst zu werden. Das war in der That nicht sehr lustig, am allerwenigsten für die Gräfin Luiccolli, welche mit zur Gesellschaft gehörte. Natürlich gab es lange und bleiche Gesichter – nur der Lord lachte aus Herzensgrunde, denn das war ja doch einmal ein Abenteuer, welches ihm als Würze der alltäglichen Gewöhnlichkeit diente, und einmal ein Bischen innerlich und äußerlich aufregte. Jetzt erwachte erst in ihm eine volle Thätigkeit.

Ein langes Ruder aus dem desertirten Boote wurde aufgerichtet, und der feine Shawl der Gräfin als Nothflagge daran befestigt, obwohl der Lord nicht ohne innerliche Lust voraussah, daß die erste beste Brise das feine Gewebe in tausend Fetzen reißen würde. Aus zwei Mänteln, welche glücklicher Weise zwei etwas feine Kavaliere mit an’s Land genommen, den noblen Leichnam gegen kühle Lüftlein zu schützen, bildete er ein Zelt für die Gräfin, indem er die Herren davon unterhielt, wie ungemein erquickend nach einem heißen Tage eine eisig kalte Nacht und starker Thau sei, wie es doch gastronomisch ungemein interessant sein müsse, zum unverfälschten Naturleben zurückzukehren, und nicht nur Muscheln, sondern auch Fische roh zu verspeisen, und dergleichen mehr. „Ein Tod,“ fuhr er fort, „wie ihn jeder gemeine Venetianer dahin stirbt, ist auch durch sein Ordinäres wenig interessant; aber der Hungertod auf einer schattenlosen Klippe, begleitet von Halbgebratenwerden in der Sonne und Halberfrieren in der Nacht, ist denn doch in jeder Beziehung etwas, das nicht Jedem begegnet.“ Mit solchen Gesprächen jagte er eine Gänsehaut über die andere den edeln Kavalieren, den tapfern Nachkommen heldenkühner Vorfahren über den feinen Leib, und brachte ihr von feiner Pomade duftendes Haar zum Sträuben. Ein Glück, daß die von dem Schrecken erschütterte Gräfin unter dem Mantelzelte schlief, und also der Tortur entging, in welche der Lord seine Gefährten spannte. Sie baten ihn endlich inständigst, nachzulassen, und er erbarmte sich der Helden des jungen Italiens, die, wie er sarkastisch bemerkte, mehr von Atalanta gelernt, als von irgend einem Helden der mythischen Zeit, einer spätern zu geschweigen.

Von Zeit zu Zeit wurden Schüsse abgefeuert, um Fahrzeuge auf die Verlassenen aufmerksam zu machen. Dies erhielt den Muth der Italiener aufrecht, zumal die Vorräthe an geistigen Getränken, die sie noch hatten, innerlich nachhalfen; als aber zwei Tage und zwei Nächte trost-, hoffnungs- und rettungslos hingegangen waren, und auch nicht die entfernteste Aussicht war, gerettet zu werden – da kamen Lord Byron’s Bilder vom Hungertode allmälig zur Geltung und Kavaliere wie Bootsleute überließen sich ihrer Verzweiflung. Nur die Gräfin richtete sich an dem Muthe Lord Byron’s auf, der sich indessen im Geheimen seiner Seele nicht verhehlen konnte, trotz aller humoristischen Auffassung, trotz aller Sarkasmen, mit denen er seine Leidensgenossen überschüttete, sei ihre Lage eine keineswegs im rosigen Lichte erglänzende. Was sollte bei längerer Dauer aus ihnen werden? Der Hungertod rückte mit grausigem Grinzen an sie heran, und es war Noth, daß irgendwie auf Rettung gedacht wurde, da kein Segel in den Bereich ihres Signals kam, das dem Gesetze der Vergänglichkeit jeden Tag ein Fragment seines Leibes zum Opfer gab, wenn die Brise wehte. Was würde daraus, wenn eine scharfe Bora ihr Spiel damit beginnen sollte? – Auf die Dauer vermochte die Gesundheit der Männer selbst dem wechselnden Einfluß von glühender Tageshitze und scharfer Nachtkälte nicht zu widerstehen, da sie, wie die Wilden ferner Länder unter Gottes Sternen sommerlich gekleidet, übernachten’ mußten, und vor Frost oft Zähneklappern zum Besten gaben, daß es eine Art hatte und als musikalisches Intermezzo selbst Lord Byron keine Handhabe zu Scherzen mehr bot, um so weniger, als er selbst als mitagirender Musiker thätig im Chore war.

Die allerernstesten Berathungen traten an die Stelle der Scherze, der Beschluß, ein Floß zu bauen, scheiterte am gänzlichen Mangel alles Materials zu diesem Zwecke. Von einer Insel, schwimmend, die andere zu erreichen, war völlig unmöglich und würde auch, da sie alle unbewohnt sind, eine Handlung gewesen sein, die nur unheilvoll für den werden mußte, der eine solche Excursion unternommen haben würde, ohne daß sie die Lage der Andern hätte verbessern können. Rathlos saßen sie im Rathe. Selbst Lord Byron zeigte deutlich, daß seine gute Laune an ihrer äußersten Grenze angekommen sei, wo sie, wie Alles, in ihr Gegentheil, umzuschlagen im Begriffe stand.

Da erhob sich ein Venetianer, der, weil er einäugig war, bei der heitern Genossenschaft seiner Freunde der Cyclope hieß, und machte einen Vorschlag, den er auch selbst auszuführen den heldenmüthigen Entschluß erklärte. Er schlug nämlich vor (er war Seemann und gehörte zur Mannschaft des verlorenen Bootes) auf ganz eigenthümliche Weise eine Seefahrt zur Rettung Aller zu wagen. Da es nämlich eigentlich der Zweck der Gesellschaft gewesen war, nach Sabioncello zu gehen und man nur, der Laune Byron’s folgend, auf Grossa minore gelandet hatte, so hatten die Schiffer in ihr Boot ein Faß aufgenommen, um in Sabioncello, wo das köstlichste Trinkwasser sich fand, dieses Faß zu füllen und nach Venedig mit zurückzunehmen. Da nun auch Grossa minore eine berühmte Quelle hat, so war von den Schiffern dieses Faß an’s Land gebracht worden, um es an dieser Quelle zu füllen, da sie nicht wußten, wann sie nach Sabioncello kommen und wie lange sie sich dort würden aushalten können. Sie kannten alle die bizarren Launen Lord Byron’s und dachten, das Gewisse für das Ungewisse zu nehmen.

Der Cyclope schlug nun vor, diese Tonne der Länge nach durchzuschneiden, die Eisenreife stehen zu lassen und so eine Art Boot zu bilden, in das er sich setzen und die abenteuerliche Fahrt unternehmen wolle, um Hülfe zu holen.

So abenteuerlich der Vorschlag, so zweifelhaft sein Erfolg war, augenblicklich hatte er das Meiste für sich, und der ungewöhnliche Muth, die seemännische Tüchtigkeit des Cyklopen lieh ihm noch ein besonderes Gewicht. Es war Lord Byron, der sogleich in den seltsamen Gedanken und Vorschlag mit großem Eifer einging. Dadurch kam er zur möglichst raschen Ausführung. Mit großer Kraft und Ausdauer begannen nun die Seeleute daran zu arbeiten und nach der größten und mühevollsten Anstrengung brachten sie ihr Werk fertig, das die allerseltsamste Form hatte, doch die größte Aehnlichkeit mit einer Muschel. Es wurde in die See gebracht und der muthige Cyclope setzte sich hinein. Gegen Erwarten hielt es durch des Insassen Fürsorge und Kunst im Balanciren das Gleichgewicht. Anfänglich drehte es sich wie ein Kreisel im Kreise herum, allein als der Cyclope seine beiden Ruder in Bewegung setzte, hörte dieses Sichimkreisedrehen auf, und er brachte es in eine Strömung, die es schnell den Blicken entzog. Ihre Gebete und Wünsche begleiteten das waghalsige Unternehmen und sie blieben, zwischen lähmender Angst und schwacher Hoffnung schwebend, auf dem trostlosen Felsen von Grossa minore zurück, wo jeder Augenblick längeren Verweilens peinlicher und – gefährlicher wurde. Der Tag verging; der Abend kam und der Schlaf lullte sie in süße Hoffnungsträume ein.

Der Cyclope ruderte indeß getrost, von der Strömung fortgetragen, an Sabioncello vorbei. Zu landen wurde ihm unmöglich, weil er der Strömung keinen Widerstand leisten konnte. Das war sein Hoffnungsanker gewesen, daß er hier würde landen können. Jetzt sank sein Muth. Von der Insel aus bemerkte ihn Niemand und immer reißender wurde die Strömung. Er flog mit seinem absonderlichen Fahrzeuge in reißender Eile dahin.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 531. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_531.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)