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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

die Hugihörner, die Lauteraarhörner und die Schreckhörner das majestätische Panorama.

Unweit des Abschwunges bezeichnete man mir die Stelle auf der Mittelmoräne, wo einst 1842 das kleine Stegreifhäuschen, Hôtel des Neuchatelois gestanden hatte, (seitdem jedes Jahr 80 Meter vorgerückt), und weiter unten auf derselben den Hugiblock, denn die ungeheure Größe mancher Moränenblöcke berechtigt zu dieser namengebenden Auszeichnung, wie man auch recht gut auf Jahre lang voraus berechnen kann, wann er am Fuße des Gletschers anlangen und dann vielleicht unter dem Chaos kleinerer Blöcke für alle Ewigkeit tief begraben sein wird. Das Abschmelzen des Gletschers an seinem Ende hält am Unteraargletscher nicht Schritt mit dessen Vorrücken, und so tritt dieser schleichende, aber unaufhaltsam vordringende Berggeist immer tiefer in das Thal herab. Aber ein Menschenalter gehört dazu, um es auffallend zu finden. Zwischen mehren der genannten mir gegenüberliegenden Berge stiegen kleinere Gletscher in starker Neigung herab, um sich unten, wie Bäche mit dem Strome, mit dem Unteraargletscher zu vereinigen, der seinerseits, in der Mitte gegen 1000 Fuß dick, auf fast wagerechter, oder wenigstens nur wenig geneigter Fläche ruht. Diese kleineren Gletscher sind der Zinkengletscher, der Grünberg-, Thierberg. und der Silberberggletscher.

Gegen ein Uhr kam Herr Dollfus mit seinem Sohne und einem Diener von einer Gletscherwanderung an, und ihre drei Menschengestalten dienten mir lange als Maßstab für die ungeheure Eisfläche, auf der ich sie nach den Fingerzeigen der übrigen Bewohner des Palais lange Zeit nicht finden konnte. Bald befand ich mich, wenn auch kein Gletscherkundiger, dennoch in vertrauter Berufsnähe an seiner Seite; denn was führt die Menschen schneller aneinander, als gleiche hingebende Liebe zur Natur und ihrer Wissenschaft? Ich theilte im feldlagerartigen Häuschen das kunstlose Mahl, und dann erschloß mir Herr Dollfus in mehrstündiger unterhaltender Belehrung den reichen Schatz seiner Gletscherbeobachtungen, worin es ihm schwerlich Jemand gleich thut.

Das Gemach, zu welchem den Winden, welche hier oben Herren sind, der Zugang nicht ängstlich gewehrt ist, zeigte ein buntes Durcheinander von den Bedürfnissen des Alpenreisenden und des gelehrten Forschers, obgleich Herr Dollfus von Beruf Fabrikant ist. Während der Unterhaltung zeichnete er gelegentlich atmosphärische Beobachtungen in seine Tabellen. Die letzte war, daß von sechs bis acht Uhr Abends zehn Centimeter Schnee gefallen war und das Thermometer genau auf Null stand. Es muß jetzt noch tiefer stehen, denn obgleich ich meine Füße in eine wollene Decke gewickelt und innerlich zweimal durch einen Schluck Kirschwasser einzuheizen versucht habe – denn das Feuer im kleinen Ofen ist längst ausgegangen – so sind mir doch die Finger nachgerade beim Schreiben steif geworden. Ich lege mich darum als Dritter im Bunde auf die Streu, und wahrscheinlich träume ich bald von der Möglichkeit (die ich jetzt noch nicht recht begreife), im tiefen Schnee morgen, früh wieder hinunter auf den Gletscher und vom Gletscher auf das Hospiz zu kommen.






Alte Spuren der Gletscherwirkung.
Wabern bei Bern, den 13. Sept. 1856.

Neben dem Genuß an der landschaftlichen Schönheit wird dem Schweiz-Reisenden noch der Gewinn tieferen Erfassens, sobald er in der Naturwissenschaft einigermaßen bewandert ist. Damit soll keineswegs gesagt sein, daß nur der Naturforscher von Beruf den wahren Reisegenuß habe, wenn auch nicht in Abrede gestellt werden soll, daß mit dem Grade naturwissenschaftlicher Bildung der Genuß an einer Reise in der Schweiz zunimmt. Wohl aber will ich damit sagen, daß mir die Verschuldung unseres naturwissenschaftlichen Schulunterrichts niemals größer erschienen ist, als auf meinen Wanderungen durch das Berner Oberland, wenn ich den Troß der Touristen achtlos an den stummen Zeugen von den gewaltigen Vorgängen früherer Erdzeiten vorbeigehen sah und wenn ich andererseits so glücklich war, Reisegenossen, welchen mich die Laune des Reisezufalles zugesellt hatte, mit wenigen Hindeutungen hier und da ein tieferes Verständniß dessen zu eröffnen, was ohne diese entweder blos den Vorzug des landschaftlich Schönen oder Frappanten oder vielleicht selbst nicht einmal diesen gehabt hätte.

Zu solchen Gedanken gab mir fast Schritt für Schritt der Weg vom Grimselhospiz bis herab in das Haslithal Veranlassung, ein Weg der auch sonst zu den schönsten Tagemärschen des Berner Oberlandes gehört. Diesen Weg in der Zeit von etwa zehn Uhr Morgens bis sechs Uhr Abends, denn diese Zeit erfordert er, bei hellem sonnigen Wetter gemacht zu haben, so daß der gewaltige Aarfall bei der Handeck seinen leuchtenden Regenbogen um die Mittagszeit vor dem trunkenen Blick des Wanderers ausspannen konnte: dies wird jedem Touristen ein unvergänglicher Erinnerungsschatz bleiben.

Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen etwas von diesem Schatze, wenn auch nur in den blassen Farben einer flüchtigen Schilderung mittheile. Ich knüpfe dabei noch etwas über der Grimsel an und dehne meine Schilderung unten bis an das Ufer des Brienzer Sees aus, um den ganzen ersten Lebensabschnitt der Aar, ihre wilde Kindheit, zu umfassen, von ihrem Austritt aus dem Unteraargletscher bis zu ihrem Einfluß in den Brienzer See. Dabei beschränke ich mich jedoch auf eine Schilderung der diesen ganzen Weg entlang sichtbaren Spuren ehemaliger Gletscherwirkung.

In meinem letzten Briefe erzählte ich Ihnen schon, daß ich am Unteraargletscher den berühmten Gletscherforscher, Herrn Dollfus-Ausset aus Mühlhausen, in seinem „Pavillon“ antraf und daß mir nach dem etwa eine halbe Elle betragenden frischen Schneefall schier etwas bange wurde um den Heimweg nach dem Grimselhospiz, denn dieses war in jenen Tagen meine Reiseheimath. Doch ging alles gut von statten. Der Vormittag des 8. Sept. verging mit Einpacken von hunderterlei Geräthschaften, welche der wissenschaftliche Einsiedler während seines Aufenthaltes zu seiner leiblichen und geistigen Nothdurft gebraucht hatte und um zwölf Uhr setzte sich unser Zug von zehn Personen in Bewegung. Zu Herrn Dollfus-Ausset nebst Sohn und mir war noch ein Vierter gekommen, ein kühner Gletscherwanderer, den am vorhergehenden Tage der Schneefall unter dem gastlichen Dache des Pavillon zurückgehalten hatte. Die übrigen Sechs waren die Träger und Palastbediensteten des Gletschermannes, alle mit centnerschweren Packen beladen. Das Hinabsteigen nach dem Gletscher war weniger gefährlich, als mir Abends zuvor erschienen war, denn es wurde dafür ein anderer Abhang gewählt und auf dem Gletscher selbst fand ich meinen Marsch sogar ziemlich sicher, aber – tertianermäßig. Indem ich Schritt für Schritt in die Fußtapfen des letzten der hintereinander gehenden Träger trat, von denen also nur der erste seine heile Haut für alle hinter ihm Gehenden zu Markte trug, fiel mir unwillkürlich die lateinische Redensart „vestigia legere“ ein, denn ich blickte unverwandten Blickes aus die vestigia meines Vorgängers, wie man die Worte „liest.“ Mancher tiefe mit Schnee zugewehte Schrund wurde überschritten oder mit Hülfe des Alpenstockes übersprungen. Ein langes Seil war immer in Bereitschaft, um aus der Noth zu helfen, wenn vielleicht Einer in die Tiefe hinabfahren sollte. Es blieb aber glücklicherweise unbenutzt. Der Gang über das Ende der linken Seitenmoräne war zwar bis auf einen möglichen Beinbruch ungefährlich aber im höchsten Grade anstrengend. Nach beinahe zweistündiger Wanderung auf Gletschereis und Moränenblöcken standen wir endlich unten am Gletscherfuße auf dem „Aarboden,“ einer etwa eine halbe Stunde langen und eine kleine Viertelstunde breiten vollkommen ebenen Fläche, über welche die in viele geschlängelte Arme sich theilende Aar durch niedrige Gletscherthore aus den, von feinem Schutt fast schwarzgefärbten, gegen 200 Fuß hohen Eismassen hervortritt.

Hier glaubt nun der gewöhnliche Tourist am Ende des Gletschers zu sein. Er ist es auch, wenn er nicht daran denkt, daß jeder Gletscher, der eine mehr der andere weniger ersichtlich, blos die Gegenwart, der letzte Zeitabschnitt einer ungeheuer langen Periode der Erdbildung an seiner Stelle ist.

Es fiel mir hier auf, daß die Volkssprache der Schweizer einige Ausdrücke hat, welche unverkennbar darauf hinweisen, daß im Volke ein tieferes Erfassen der Gletscher liegt, als ein blos auf die gegenwärtige Thätigkeit derselben sich beschränkendes. Das Volk, nicht die Wissenschaft, hat den Namen Aarboden, Grimselboden, Rätterichsboden, Hasliboden (letztere drei der ersten ganz gleiche Ebenen) erfunden. Diese Flächen sind unverkennbar in früheren Jahrtausenden „Boden“flächen des Aargletschers gewesen. Das Volk pflegt doch sonst ähnliche Ebenen nicht „Boden“ zu nennen! Unweit dem Austritte der Aar aus dem

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