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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

John Clifford war der Erste. Er. sprang und blieb eine gute Elle hinter dem Ziele zurück. Ein Strahl der Freude blitzte über das bleiche Gesicht des schönen Mädchens. Ein unaussprechlicher Blick traf William Brown. John Clifford einsehend, daß sich das Schicksal gegen ihn entschied, schien sich mit ziemlicher Ruhe drein zu ergeben. Sein Vater sah mürrischer aus, als er.

William Brown nahm den erlaubten Anlauf und sprang und erreichte das Ziel fast. Etwa einen Fuß breit weiter zurück zeigte sich der Abdruck seines Fußes im Boden, der absichtlich feucht gemacht war. Jetzt trat Washington vor.

„Soll ich’s wagen, da William Brown gesiegt hat?“ – fragte er.

„Ihr müßt!“ rief der Farmer und die reizende Lucy mußte sich an den Stamm des Baumes lehnen, an dem sie mit einigen kaum minder hübschen Mädchen stand, die Schwestern von William Brown und John Clifford waren. Einem scharfen Beobachter würde es nicht entgangen sein, daß Mary Brown. Williams Schwester, erbleichend ihre Hände gefaltet hatte, als John Clifford den Sprung wagte und daß sie freudig zusammenzuckte, als er so weit vom Ziele blieb.

Washington trat an, nahm den Anlauf und – weit über das Ziel sprang er mit wunderbarer Leichtigkeit. Ein Ach, ob der Freude oder des Unwillens? – entfuhr den Zuschauern und das schöne Mädchen wankte. Eben so flüchtig, wie er gesprungen war, stand Washington bei ihr und fing sie auf. „Seien Sie ruhig, Miß Lucy,“ sagte er leise zu ihr, „ich sprang nur mit, um im Nothfalle Sie an William Brown abtreten zu können. Ich bin glücklicher Gatte!“

Das Mädchen starrte ihn ungläubig an, aber sein Ton war so fest, daß kein Zweifel blieb.

Jetzt wandte er sich gegen die Männer.

„Ich bin George Washington,“ sagte er lächelnd, „und habe mir einen kleinen Scherz erlaubt, den Ihr, theure Mitbürger, mir vergeben werdet, wenn ich Euch den Grund enthüllt haben werde. Der wackere Vater dieses trefflichen, liebreizenden Mädchens hatte mir die Lage der Sache mitgetheilt, als er den Gast speiste und tränkte; mein Blick bestätigte meine Vermuthung, daß eine innige Liebe William Brown mit Lucy verbindet, während der sehr ehrenwerthe John Clifford vielleicht mehr dem väterlichen Wunsche bei seiner Bewerbung folgte. Für William Brown ist bereits entschieden gewesen, als Ihr mich zum Sprunge zwangt. Die liebliche Braut ward mein, aber ich bin glücklicher Gatte und trete sie, da sie mein ist, an William Brown ab, an den ich sie unter allen Umständen abgetreten haben würde.“

Alle standen da, wie Bildsäulen; nur William Brown stürzte auf Washington zu und drückte stürmisch seine Hand. „Wie soll ich Euch danken?“ rief er aus.

„Hoch lebe Washington!“ erschallte es jetzt im Chöre und John Clifford war der Erste, der den Ruf ausbrachte. Alle umringten den Helden jetzt und der alte Farmer bat flehentlich, er möge seinem Hause das Glück gewähren, bei Lucy’s Vermählung zugegen zu sein.

„Wenn ich wüßte,“ sagte Washington lächelnd, „daß es eine Doppelhochzeit gäbe“ – und dabei sah er John Clifford an, der ihn mit begeisterten Blicken betrachtete.

„Wollt Ihr mein Freiwerber werden?“ fragte der Jüngling.

„Mary Brown, Williams liebliche und brave Schwester wäre die, um die ich jeden Sprung wagte.“

Washington trat zu dem alten Clifford. „Master Clifford,“ sagte er, seine harte, derbe Hand kräftig fastend’, „habt Ihr das gehört?“

„Ich habe es gehört,“ erwiederte der alte, biedere Virginier, „und wenn mein lieber Nachbar Brown denkt wie ich, so ist Eure Werbung schnell am Ziele.“ Der alte Brown lächelte dazu und meinte, „da bliebe ihm ja nichts übrig, als ja zu sagen, wenn Mary wolle.“ Aber John und Mary, Lucy und William nahten schon, um den elterlichen Segen zu erbitten.

Washington konnte dennoch nicht bleiben. Er mußte, wichtiger Geschäfte willen weiterreisen. Das betrübte Alle aufrichtig. Als er schied, küßte er die erröthende Lucy auf die reine Stirn, wünschte beiden Paaren Glück, und als William den Blick sah, den Lucy dem edeln Manne nachsandte, als er unter den Bäumen verschwand, die den Weg beschatteten, den Blick, in dem ein paar krystallne Tröpflein glänzten, da sagte er, die theure Braut schalkhaft anblickend: „Ich bin eigentlich recht froh, daß er weggeritten ist.“ Lucy trocknete das Auge, reichte William ihre weiße Hand und entgegnete lächelnd und doch so ernst: „William, scherze nicht. Er ist der Gründer unseres Glückes. Gott segne ihn!“




Eines Tages ging ein Mann durch eine der abgelegeneren Straßen von Philadelphia, dessen Haltung und äußere Erscheinung auf eine bedeutende Person schließen ließ. Es war früh am Morgen und der Verkehr belebte die Straße noch wenig. Plötzlich trat ein Jüngling an ihn heran mit bleichen, kummervollen Zügen, schüchtern, furchtsam, ja zitternd und ohne ihn anzublicken, bat er leise um eine Unterstützung. Der Mann sah ihn scharf an, aber der Blick wurde milder nach dieser prüfenden Beobachtung, denn der Ausdruck des jungen Menschen, die zitternde Stimme, die ganze Haltung zeigten ihm, daß er keinen Bettler von Profession hier vor sich habe, sondern im vollen Sinne des Wortes einen Unglücklichen.

„Sie sehen mir nicht aus, wie Einer, der an’s Betteln gewöhnt ist. Was nöthigt Sie zu diesem Schritte? Seien Sie offen und ehrlich, sagen Sie mir die volle Wahrheit, aber auch nur Wahrheit, denn davon wird meine Hülfe abhängen!“ – So sprach mild und Zutrauen einflößend der Angeredete.

„O, das will ich,“ sagte mit einem tiefen Seufzer und nun erst den Blick zu dem Gesichte des Mannes aufschlagend der junge Mensch. „Wohl bin ich nicht in den Verhältnissen geboren, wie die sind. in denen Sie mich finden. Die Unfälle, die meinen armen Vater trafen, das namenlose Unglück, in dem sich meine gute Mutter befindet, nöthigen mich zu dem Schritte, den ich mit zagendem Herzen, mit großer Ueberwindung gethan habe.“

„Wer ist denn Ihr Vater?“ fragte der Mann weiter und erfuhr nun, daß er ein wohlhabender Kaufmann gewesen, den der treulose Bankrott eines Geschäftsfreundes völlig zu Grunde gerichtet und bettelarm gemacht hatte. Der Kummer über dieses unverschuldete Elend half den Keim einer tiefer liegenden Krankheit rasch entwickeln und nach wenigen Monaten starb er, und sein Tod brachte das Maß des Unglückes der Familie zum Ueberfließen. Die Mutter, der junge Mensch und ein jüngerer Knabe versanken in die tiefste Armuth. Ein Freund seines Vaters gab dem jungen Menschen Unterkommen in seinem Hause; die Mutter suchte durch Arbeit sich und den jüngeren Bruder zu ernähren; aber in der letzten Nacht wurde sie von einer heftigen Krankheit befallen, die ihr Leben in Gefahr brachte. Der junge Mensch hatte keinen Kreuzer, um ärztliche Hülfe und Arzneimittel zu beschaffen. „Ach,“ schloß er, „ich habe den Muth nicht, unsere Bekannten aufzusuchen und um ein Almosen zu bitten. Die Reichen darunter sind hart; die Armen, die ein Herz haben, können nicht helfen, wenn sie auch wollten. Darum –“

Der Herr hatte ihm mit inniger Bewegung zugehört. Das war die Stimme der Wahrheit, wenn sie irgendwo zu finden war, das sagte ihm das Herz.

„Nun – fahren Sie, fort,“ sagte er mild zu dem jungen Menschen. –

„Darum,“ fuhr dieser fort, und zwei heiße Thränen rollten ihm über die Wangen, „faßte ich ein Herz, Sie, den Fremden, anzureden und überwand die Scham, die sich mit Macht dagegen erhob. Ach, erbarmen Sie sich meiner armen Mutter!“

„Wohnt Ihre Mutter weit von hier?“ fragte der Mann, dem das Herz weich wurde.

„Im letzten Hause dieser Straße, links, im dritten Stockwerke,“ sagte der junge Mensch, ihn flehentlich ansehend.

„Und einen Arzt haben Sie noch nicht? Nun, hier sind einige Dollars. Eilen Sie, einen Arzt zu holen.

Der junge Mensch ergriff seine Hand und benetzte sie mit seinen Thränen. Reden konnte er nicht, nur die Worte brachte er heraus: „Gott segne Sie!“ dann eilte er von dannen mit einer Hast, daß er zu fliegen schien.

Der Mann sah ihm einen Augenblick nach, dann schüttelte er den Kopf, und sagte leise zu sich: „Nein!“ Darauf schritt er dem bezeichneten Hause zu, und war bald an der Thüre der Wittwe, wo er leise anklopfte. Ein kleiner, schöner Knabe, dessen Auge in Thränen schwamm, öffnete die Thüre, und er trat ein. Sein scharfer Blick musterte das Stübchen schnell. Da stand ein alter tannener Tisch, zwei Stühle von eben dem Ansehen, wie der Tisch, ein alter Schrank und auf dem Tische einige weibliche

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