Seite:Die Gartenlaube (1856) 636.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

mehrere Personen, voran eine junge Dame mit einem sehr blassen, leidenden Gesichte. Sie blickte in die Stube, sie sah den Herrn von Thilo, sie sah den Reiter, sie sah den Wache haltenden Polizeidiener, und fiel mit einem lauten Angstschrei einer andern, hinter ihr stehenden jungen Dame in die Arme.


Der Geheimerath Fischer hatte mit seinen beiden Töchtern von Frankfurt aus seine Reise den Rhein hinauf nach der Schweiz fortgesetzt. Er war merkwürdiger Weise, je näher er der Schweizer Grenze kam, munterer, besserer Laune geworden. Von der Anna Maria Bommert hatte er nichts mehr gehört; auch in die Zeitungen hatte die fatale Geschichte keinen Eingang gefunden. Er selbst sprach gleichfalls nicht davon. Es beschäftigten ihn andere Gedanken.

„Ah,“ sagte er sehr vergnügt, „ich bin doch neugierig auf dieses unglückliche Land. Welch’ eine grauenvolle Verwirrung muß dort herrschen! Was sage ich? Verwirrung? Gesetzlosigkeit, Anarchie. Wie kann es auch anders sein? Eine Republik ist schon an sich ein Zustand der Anarchie.“

„Aber, Vater!“ bemerkte Fräulein Charlotte.

„Aber, Vater! Was hast Du wieder?“

„Dann müßten Sie sich ja fürchten, einen unterwühlten Boden zu betreten, oder gar in einen offenen Krater sich zu stürzen.“

„Das ist eben das Sonderbare, Charlottchen. Wir können ruhig hinkommen, den Fremden thun sie nichts. Sie fressen sich nur unter einander auf, wie echte Wölfe der Demokratie.“

Sie kamen nach Basel. Der Geheimerath war doch mit einigem Herzklopfen über die Rheinbrücke gefahren; er hatte dann an den Straßenecken nicht ohne Besorgniß sich umgesehen, ob er nicht einem wilden demokratischen Wolfsgesichte begegne, ob er nicht gar Zeuge sein müsse, wie plötzlich ein harmloser Bürger von ein paar Wühlern überfallen, erdolcht und ausgeplündert werde. Er sah von alledem nichts. Er fuhr durch stille und ruhige Straßen, in denen nur das Geräusch und die Bewegung des geschäftigsten und ordentlichsten Verkehrs herrschte.

Der Geheimerath schüttelte den Kopf. Er blieb den folgenden Tag in Basel, und fand nur dieselbe ruhige und ordentliche Geschäftsthätigkeit. Er wurde still, beinahe verstimmt. Doch tröstete er sich zuletzt damit, einmal, daß Basel unmittelbar an der deutschen Grenze gelegen, eigentlich nur eine deutsche Stadt, und zum Andern, daß es, wenngleich eine Republik, doch eine aristokratische Republik sei, die im Grunde von einer Monarchie sich nicht im Prinzip, sondern nur in einem gewissen Zahlenverhältnisse unterscheide.

Er fuhr von Basel nach Schaffhausen; meist auf deutschem Gebiete, und erfuhr daher auf dieser Tour wenig von der Schweiz. Bei Schaffhausen sah er nur den Rheinfall und das schöne Hotel Webern. In Schaffhausen selbst sah er gar nichts. Von Schaffhausen fuhr er aus dem Dampfschiffe den Rhein hinauf, über den ganzen Bodensee bis Rorschach. Das war eine herrliche Fahrt. Seinen beiden Töchtern ging das Herz auf in allen den Herrlichkeiten des wundervollsten Wechsels von Milde, Anmuth, Wildheit und Schauerlichkeit der Ufer des Rheins; dann der reizendsten, romantischen Parthien des Untersees; der Großartigkeit des Obersees, mit seiner ungeheuern, kaum übersehbaren Wasserfläche, seinen schönen Städten, dem ehrwürdigen alten Constanz, dem eleganten Friedrichshafen, dem freundlichen Lindau, dem in der, herrlichsten Natur gelegenen Bregenz; endlich der erhabenen Aussicht auf die hohen Gletscherketten bis tief in Graubünden hinein. Aber nur den Töchtern des Geheimeraths ging das Herz auf. Er selbst blieb kalt bei allen diesen Schönheiten, oder er redete es sich wenigstens ein. „Pah, was ist es denn nun?“ sagte er, als er den Hochsäntis sah; „eine rauhe und roh geformte Steinmasse; was kann man sich denn dabei denken?“ Und beim Anblicke der Schneeberge rief er aus: „Unnatürlich! Ich liebe das Unnatürliche nicht. Solche Schneefelder gehören nach Rußland, nicht in die Schweiz.“

Nur einmal war ihm auch wohl geworden, und er verleugnete es nicht. Es war noch auf dem unteren Bodensee, Als das Dampfschiff dort unter dem unendlich lieblichen und reizenden Arenenberg hinglitt, ließ er mit vollem Entzücken das Auge auf dem sanft aus dem See ansteigenden Berge haften, auf seiner dunkeln Waldung, seinem weiten Parke und auf dem aus Wald und Park hervorleuchtenden, weit den See und das Land bis tief in Baden und Würtemberg hinein beherrschenden Schlosse.

„Ha,“ rief er, „dort hat er geweilt, dort hat er den ersten Keim empfangen für seine nachherigen großen Thaten, der Mann, der die Demokratie auf das Haupt geschlagen hat, dem Europa und die Kreuzzeitung die Wiederherstellung der Ruhe und Ordnung verdanken.“

Später wurde er freilich wieder stiller; und als er in Rorschach den Schweizer Boden wieder betreten hatte, und jeder Schritt, ihn weiter in immer neue Schönheiten des schönen Landes hineinführte, da wurde er zu Zeiten fast melancholisch; da war eine Vergleichung mit den Pichelsbergen und dem Thiergarten gar nicht mehr möglich, wie der Bodensee sich nicht hatte mit dem Rummelsburger See vergleichen lassen. Dabei sollte ihm noch ein Anderes schwer aus das Herz drücken. Fast in jedem Dorfe sah er ein großes, Helles, sehr sauber gehaltenes Gebäude, das sich vor den andern Häusern auszeichnete.

„Das ist gewiß ein Edelsitz?“ fragte er.

„Nein!“ wurde ihm zur Antwort. „Das ist das Schulhaus der Gemeinde.“

„Und jenes dort?“ frug er in St. Gallen, auf ein großes, glänzendes Gebäude zeigend, das auf einer reizenden Anhöhe reizend gelegen – „welcher Fürst hat sich dies Schloß gebaut?“ „Kein Fürstenschloß,“ hieß es wieder, „es ist das Armenhaus.“ – Er fragte dann nicht mehr.

In dem schönen Toggenburg lebte er aber wieder auf. Nicht über die Schönheit der Gegend, aber über etwas Anderes. In dem Gasthofe zu Herisau traf er einen wohl und gebildet aussehenden Mann, der, wie er erfuhr, aus der Nachbarschaft zu einer Sitzung des Obergerichts des Kantons herübergekommen war. Er erkundigte sich bei ihm mit Hast nach den Rechtszuständen des Kantons.

„Sie sind sehr gut geordnet,“ erwiederte ihm der Mann. „Alle Welt ist mit der Rechtspflege zufrieden; ein Beweis ist, daß das Obergericht, das höchste Gericht des Landes, an welches alle Appellationen gehen, fast gar nichts zu thun hat.“

Schon darüber mußte der Geheimerath bedenklich den Kopf schütteln. Aber noch mehr stieg sein Erstaunen, als er erfuhr, daß in der Schweiz eigentlich gar kein Gesetzbuch existire, daß das Volk alljährlich seine Regierung und seine Richter aus seiner Mitte wähle und von diesen Recht sprechen ließ.

„Unstudirte Leute,“ sagte er spöttisch, „ein Käsehändler Richter – Oberrichter, was bei uns in Berlin Ober-Tribunalrath ist – Charlottchen, es ist doch ein elendes Land!“

Er hatte dabei nur eine Furcht: dieses Elend möge blos im Kanton Appenzell bestehen. Zu Basel und Schaffhausen hatte er nicht daran gedacht, nach den Rechtszuständen sich zu erkundigen.

Wohin er jetzt kam, fragte er darnach. Er hörte, daß dieselben Zustände völlig so in den Kantonen Schwyz, Uri, Unterwalden, Zug und Glarus sich finden. Aber in den größeren Kantonen? Er kam nach Zürich. Auch dort war es so, nur mit einem kleinen Unterschiede. Die Richter wurden nicht alljährlich, sondern nur alle vier Jahre aus dem Volke gewählt.

Aber er sollte in Zürich etwas erleben, was ihn Gesetz und Richter und Recht und Rechtspflege und alle andern Zustände der Schweiz vergessen ließ. –

Ein schöner Punkt bei dem schönen Zürich ist der Uetliberg, das „Uetli“ oder „Huntli.“ Man hat dort eine weite, eine erhabene Aussicht über die ganze Gegend, über den größten Theil der Ostschweiz, weit, tief in Deutschland hinein, auf die sämmtlichen Gletscher der Ostschweiz und des Berner Oberlandes.

Schöner als das Uetli ist für mich die „Waid“ bei Zürich. Man übersieht auf diesem kleineren, aber nähern Berge nur die Gegend bei Zürich; aber man übersieht sie mit einem wundervollen Gesammtüberblick und dem klarsten Einblick in alle die reizenden Einzelnheiten dieser lieblichsten und anmuthigsten aller Gegenden, die mein Auge bisher erblickt hat. Zu unseren Füßen liegt das Limmatthal mit seinem kraus sich windenden Flusse und dem kraus fast überall ihn umschließenden Buschwerke; mit seinen vielen Dörfern, Fabriken und einzelnen Häusern, seinen Chausseen und weißen Landstraßen, die breit und bequem sich von Dorf zu Dorf ziehen, mit seinem Schienenwege, der sich mitten durch sie alle hindurch nach dem schönen Baden zieht. Das Thal wird begrenzt durch die lange Albiskette, dessen höchster Punkt jenes Uetli, mit seinem hübschen Hause gerade vor uns sich erhebt. Links, die Limmat hinauf, liegt die Stadt Zürich in ihrer ganzen Ausdehnung vor uns, mit ihren alten und großen Kirchen, mit ihren hohen, schönen Thürmen, mit den großartigen und geschmackvollen, schloßähnlichen

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 636. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_636.jpg&oldid=- (Version vom 21.3.2017)