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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

„Louise, Du bist frei,“ wollte der Herr von Thilo das Wort nehmen.

„Du schweigst; ich habe allein mit dem Fräulein zu reden. Also, mein Fräulein? Aber vorher eine kurze Geschichte. Ihr Nachbar da kann sein Leben oder seine Freiheit nur retten als Fürst Hohenstein an der Seite der Fürstin Hohenstein. Verlassen Sie ihn, so ist er in demselben Augenblick unrettbar verloren. Das beschwöre ich Ihnen.“

„O, mein Gott!“ rief die arme Louise.

„Freiwillig oder gewaltsam?“

„Karl, mein Karl!“

„Freiwillig oder –?“

„Mein armer Vater!“

„Das heißt freiwillig.“

Die Gemarterte konnte nur noch weinen.

„Weder freiwillig, noch gewaltsam!“ rief Thilo. „Louise, verzeihe mir. Ich war ein Bösewicht, ein Barbar gegen Dich. Ich bin ein Elender!“

„Ein Narr bist Du!“ sagte der Herr Klein.

„Ein Elender, der Dich unglücklich gemacht hat, der Dich seiner Selbstsucht, seinem Hochmuth, seiner Wildheit opfern wollte. Wie konnte ich so lange verblendet sein! Wie konnte ich Dich so martern, Du Gute, Du Engelsseele! Kannst Du mir verzeihen?“

Die Arme schlang ihre Anne um ihn.

„Ich bleibe bei Dir, Karl, ich kann Dich nicht verlassen!“

„Nein, nein, Du mußt fort, zurück zu Deinem Vater.“

„Himmeldonnerwetter über diese hohe Reitschule himmlischer Tugenden!“ rief der Herr Klein. Wollt Ihr endlich vernünftig werden? Was wollen Sie, Fräulein? Entscheiden Sie sich.“

„Sie kehrt zurück. Ich entsage Dir, Louise. Du hast höhere, heiligere Pflichten.“

„Nun wird es gar zu arg,“ sagte der Herr Klein. „Nun noch Entsagungen! Da muß die Polizei sich hineinmischen. Menschenkinder, wohin würden Euch Eure sublimen Tugenden führen, wenn Ihr nicht eine gute Polizei hättet? Fräulein, Sie fahren mit, und Du, Bursch, nimmst sie mit. Keines von Euch hat jetzt eine Wahl mehr. Ich befehle. Dich hängen sie, wenn sie Dich verläßt, und Sie verzehren sich in Gram, wenn er Sie von sich stößt. Damit Holla! – Für Eure zarten Gewissen aber noch Eins. Ihr fahrt bis Brüssel, unter dem Schutze des Tugendwächters da auf dem Bocke. Von Brüssel aus schreibt Ihr an den Herrn Vater in Berlin, versteht sich re integra, stellt Alles zu seinem Befehle, und es wird sich dann mit Hülfe des Fräulein Charlotte und des Herrn da auf dem Bocke, die ein paar vernünftige Leute zu sein scheinen, schon machen. Lebt wohl!

– Postillon, halt!“

Der Postillon hielt; der Herr Klein sprang aus dem Wagen. Der Wagen fuhr zum Thore hinaus. Herr Klein kehrte in die Stadt zurück. Beim Bürgermeister Heller war reges Leben. Der Herr Geheimerath Fischer war, im Schlafrock, ein Licht in der Hand, langsam die Treppe herunter gekommen, um seine Töchter zu suchen. Unten im Hausflur standen die Nachtwächter und der Gefangenwärter; sie waren bis an die Zähne bewaffnet; vor dem verwegenen Berliner Räuber, der aus der Stadtvogtei ausgebrochen war, wichen sie scheu zurück.

„Ah,“ sagte der Geheimerath vergnügt, „hier gilt doch wieder Achtung vor der Autorität. Man sieht, daß man nicht mehr in der unglücklichen Schweiz ist.“

Aber der aufpassende Bürgermeister hatte den Gensd’armen einen Wink gegeben: „Jetzt ist es Zeit. Er ahnt nichts, und scheint sogar unbewaffnet zu sein.“

Der Geheimerath wurde durch die Gensd’armen von hinten ergriffen; von vorn stürzten jetzt auch die Nachtwächter herbei.

„Aber, meine Herren, was ist denn das?“

„Haben wir Dich, alter Spitzbube!“

„Verwahrt ihn fest; er ist sogar aus der Stadtvogtei ausgebrochen.“

„Allmächtiger Gott, ich? Fünfundzwanzig Jahre lang Criminalrichter an der Stadtvogtei in Berlin!“ Er war in Verzweiflung.

Im Galopp fuhren zwei Extraposten bis unmittelbar an die Hausthür. Die eine war mit vier, die andere mit zwei Pferden bespannt.

„Pferde, frische Pferde!“ schrie man. „Wo sind denn die Pferde?

Sie sind ja seit drei Stunden bestellt!“ so riefen die Bedienten.

Aus der eleganten vierspännigen Equipage stieg ein Herr.

„Herr Postmeister, ich bin sehr eilig.“

„Wer sind Sie, mein Herr?“

„Der Fürst Hohenstein.“

Der Fürst war hochgewachsen und hatte ein vornehmes Aussehen.

„Ha!“ ging es hell in dem Bürgermeister auf, „dieser ist der Rechte. Ihr Paß, mein Herr!“

„Ich führe keinen Paß.“

„So sind sie arretirt.“

„Wer, ich?“

„Man kennt Euch Hochverräther, die alle Fürsten vertilgen wollen!“

„Bei Gott,“ sagte der Fürst, wie soeben der Geheimerath.

„Ich, selbst ein Fürst?“

„Das kann Jeder sagen.“

„Aber, Herr, so sehen Sie doch das Wappen meines Wagens an; fragen Sie meine Leute. Und hier, wenn Sie durchaus Geschriebenes wollen, ein Schreiben des Großherzogs an mich.“

In dem Bürgermeister schien es anders hell zu werden. Er sah an dem Wagen das fürstliche Wappen; er sah in dem Schreiben auch ihm bekannte Schriftzüge.

„Aber Postillon, hattet Ihr nicht umgeworfen und den Wagen zerbrochen?“

„Gott bewahre, Herr Postmeister.“

Auch der Bürgermeister stand in Verzweiflung. Der Herr Klein kam um die Ecke.

Vor der Hausthür, in der Thür, im Flur, überall war es beinahe tageshell geworden. Alle Lichter und Laternen des Hauses waren dort versammelt. Jedermann sah den Herrn Klein; der Herr Klein sah Jedermann.

„Herr Klein,“ rief der Geheimerath, „Sie kennen mich, retten Sie mich!“

Der Herr Klein hörte auf den Namen nicht. Der Geheimerath riß sich mit Riesengewalt los. Er stürzte auf den Herrn Klein zu.

„Retten Sie mich, mein Herr! Sie wissen, daß ich der Geheimerath Fischer aus Berlin bin.“

„Mein Herr, ich kenne Sie nicht; ich habe Sie nie gesehen.“

Der Bürgermeister nahm den Herrn Klein auf die Seite.

„Dieser ist der Fürst Hohenstein; ich habe mich überzeugt.“

„Nachdem Sie ihn arretirt hatten?“

„Ja.“

„Man muß sich zuerst überzeugen und dann arretiren.“

„Aber Sie selbst haben mir gesagt –“

„Ich habe Ihnen nichts gesagt.“

„Großer Gott –“

„Haben Sie Schrift oder Zeugen?“

„Aber Sie sind ja –“

„Still. Sie wissen, daß Sie meinen Namen und meine Worte vergessen müssen, so wie Sie sie gehört haben.“

Der Bürgermeister schwieg in neuer Verzweiflung.

„Aber ich will Ihnen beistehen,“ sagte der Herr Klein. „Indeß unter einer Bedingung, die freilich in Ihrem eigenen Interesse liegt. Von der ganzen Geschichte erfährt Niemand weiter etwas. Sir instruiren darnach Ihre Leute. Zudem überlassen Sie mir, verstehen Sie, nur allein jeden ferneren Schritt in der Sache. Wir sind Beide betrogen, und ich werde den Betrügern sofort nachsetzen.“

„Ich verspreche Alles!“ rief der Bürgermeister.

Der Herr Klein wandte sich an den Fürsten:

„Werden Eure Durchlaucht die Gnade haben, ein doppelt zu beklagendes Mißverständniß eines alten, braven, nur zu pflichtgetreuen Beamten, großmüthig zu ignoriren?“

„Gern, mein Herr! Sorgen Sie nur, daß ich Pferde bekomme.“

„Pferde!“ schrie der Bürgermeister seinen Postillonen zu.

Die Pferde waren im Nu da, im Nu vorgespannt; die fürstlichen Equipagen fuhren weiter.

„Hausknecht, mein Pferd!“ sagte Herr Klein zu dem Hausknecht.

„Herr Klein,“ rief der Geheimerath, „so kennen Sie mich doch; befreien Sie mich!“

„Sie, mein Lieber, scheinen von einem beklagenswerthen Mißverständnisse noch nicht befreit zu sein.“ Mit diesen doppelsinnigen Worten schwang der Herr Klein sich auf sein Pferd, und sprengte davon.

Der Geheimerath konnte erst am folgenden Tage aus seinem beklagenswerthen Mißverständnisse befreit werden. Er begriff, da seine älteste Tochter fehlte, den Zusammenhang seines Abenteuers.

Es war zu spät, den Entflohenen nachzusetzen. Er kehrte mit der

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 651. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_651.jpg&oldid=- (Version vom 21.3.2017)