Seite:Die Gartenlaube (1857) 474.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Frau von Kurow blickte sehr ernsthaft vor sich nieder, als ich sie Beide verließ. Ich trat erst wieder in’s Zimmer, als das Fräulein Hülfe herbei rief.“

„Wie lange blieben die Damen allein?“

„Ungefähr zwanzig Minuten –“

Der Beamte sah sie etwas verwundert an.

„Nur zwanzig Minuten –? Und vorher war Frau von Kurow ganz gesund?“

„So gesund, wie ich jetzt vor Ihnen stehe.“

Der Actuar, ernst und gemessen in den Schranken bleibend, die seine Stellung ihm vorschrieb, sprach leise und beschwichtigend: „Ein Schlagfluß braucht weniger als zwanzig Minuten, um das blühendste Leben zu vernichten.“

„Glauben Sie denn bei diesen Indicien noch an Schlagfluß?“ fuhr der Rath auf. „Ich werde eine Obduction anordnen und zu diesem Behufe mit dem Hausarzte, dem Doctor Müllendorf, Rücksprache nehmen.“

Der Actuar zuckte die Achseln. Er mußte sich den Anordnungen fügen, die sein Vorgesetzter für gut fand.




Unmittelbar von der Behausung der Frau von Kurow begab sich der Rath, nachdem er seinen Actuar verabschiedet hatte, in die Wohnung des Doctor Müllendorf, den er glücklicherweise daheim fand.

Die Stirn des Arztes zeigte Wolken, welche gleichmäßig einer Sorge und einer unbehaglichen Ungeduld entsprungen zu sein schienen. Sein Wesen, sonst ruhig und vorherrschend freundlich, war zerstreut und hastig und er trat dem Criminalbeamten sogleich mit einer jener Bewillkommnungen entgegen, die eine unangenehme Ueberraschung verräth.

Der Rath machte ein schlaues Gesicht. Man sah ihm an, daß er sein beliebtes „Aha!“ dachte, wenn er es auch für diesen Augenblick nicht aussprach, als er dem Arzte schnell erwiderte:

„Was mich zu Ihnen führt? fragen Sie, Herr Doctor. Ich komme aus dem Hause der Frau von Kurow!“

Die Wichtigkeit seines Accentes, womit er diese Worte sprach, wurde vom Arzte nicht verstanden.

„Das ist ein trauriger Todesfall, lieber Herr,“ rief er bewegt aus. „Und um so trauriger, als wir dabei vor einem Probleme stehen bleiben werden, das unter der Grabesnacht seine Lösung verbirgt. Ich habe alle Ueberredung versucht, um das Fräulein zu einer Leichenöffnung zu bestimmen – sie widersetzt sich jedoch meinem Vorhaben mit einer seltsamen Hartnäckigkeit.“

„Aha!“ rief der Rath überrascht und rieb sich die Hände. „Sie werden sich aber hoffentlich nicht an Fräulein von Kurow kehren?“

Der Arzt zuckte die Achseln.

„Mir fehlt die Macht, hier zu bestimmen.“

„Da könnte ich helfen! Woran denken Sie bei diesem Tode? Welche Ursachen legen Sie ihm unter?“

Der Arzt bewegte unbehaglich seinen Kopf, und drückte damit schweigend seine Unwissenheit aus.

„Eine kerngesunde Frau,“ murmelte er. „Unerklärlich! Eine Constitution, um einem Jahrhunderte Trotz bieten zu können –! Es müssen wunderbare Einflüsse einem keimenden Fehler ihres Organismus nachgeholfen haben, um diese schnelle Zerstörung zu bewirken.“

„Nachgeholfen haben,“ wiederholte der Rath mit Betonung. „Sie drücken sich problematisch über dieses Problem aus. Wie finden Sie Fräulein Kurow’s Benehmen überhaupt?“

„Verzweiflungsvoll über jeden Begriff!“ rief der Arzt. „Ihre Fassung bricht bei dem geringsten Anlaß zusammen, und macht sie fast hülflos. Es ist ein trauriges Schauspiel! Dazu kommt nun noch, daß der Herr von Schlabern ebenfalls einer so tiefen und schmerzlichen Bewegung hingegeben ist. Ich bin heute von ihm zu dem Fräulein gefahren und von dem Fräulein wieder zu ihm, um nur einigermaßen das Gleichgewicht wieder herzustellen, das den furchtbar aufgeregten Nerven der beiden jungen Leute Haltung geben muß.“

„Aha – Beide!“ entgegnete der Rath gezogenen Tones. „Der junge Herr stimmt natürlich auch gegen die Section?“

„Im Gegentheile! Er beschwört das Fräulein, dem Grunde des jähen Todes nachforschen zu lassen. Seine Phantasie spiegelt ihm Möglichkeiten vor, die ihn auf Lebenszeit beunruhigen würden – er glaubt sich die Schuld an Frau von Kurow’s Tod beimessen zu müssen.“

„Aha –! Das heißt direct oder indirect?“

Der Arzt sah ihn stutzend an. „Direct? Wie verstehe ich das, Herr Rath? Halten Sie ihn für den Mörder der Dame?“

„Auf eine Weise gewiß,“ meinte der Rath bedenklich, aber dennoch zögernd.

Im Gesichte des Arztes prägte sich tiefer Abscheu aus.

„Solche Auslegung kann ich nur dem eingefleischten Criminalisten verzeihen!“ rief er empört. „Wo sollte der junge Mann wohl Mittel zu einer That erlangt haben, die in ihren Folgen –“

„Erlauben Sie,“ unterbrach ihn der Rath hastig, „mein Verdacht ruht weniger fest auf Herrn von Schlabern, als auf –“

„Sprechen Sie nicht aus,“ fiel der Arzt zornig ein.

„Warum nicht? Was wäre in der Jetztzeit wohl unmöglich?“ versetzte der Rath kaltblütig. „Ich habe erfahren, daß Mutter und Tochter eifrige Verehrerinnen des Dumas’schen „Monte Christo“, also vollkommen mit Giftgeschichten vertraut waren. Ich habe erfahren, daß die Mutter im Begriffe gewesen ist, ihr hübsches Vermögen an einen Mann zu verheiraten, der eher für die Tochter paßte, als für sie. Ich habe erfahren, daß die Tochter, welche sich seit mehreren Monaten bei einer reichen Großtante aufzuhalten von der Mutter gezwungen war, plötzlich wieder gekommen ist und gleich von einer Krankheit der Mutter geredet hat, obwohl diese ganz gesund gewesen ist. Ich habe erfahren, daß die Tochter Alles angewendet hat, um die Aufmerksamkeit des jungen Edelmannes von der Mutter abzuziehen und auf sich zu lenken. Ich habe erfahren, daß gleich nach der Entfernung des Herrn von Schlabern eine bedeutende Mißstimmung zwischen den beiden Damen eingetreten sei, daß sich danach Fräulein Lucilie geflissentlich dazu gedrängt habe, eine Limonade für ihre Mutter zu bereiten, daß Frau von Kurow diese Limonade „seltsam schmeckend“ gefunden, daß sich ein verrätherischer bitterer Geruch im Zimmer verbreitet und Frau von Kurow von Erstickungskrämpfen befallen worden sei. Was sagen Sie nun, mein hochgeehrter Herr Doctor?“

„Nichts weiter, als daß jetzt die Obduction der Frau von Kurow eine Nothwendigkeit wird,“ entgegnete der Arzt mit allen Zeichen großer Entrüstung. „Jeder Kampf gegen Ihre Meinungen würde nutzlos sein. Ich werde sogleich Maßregeln treffen, um, mit oder gegen des Fräuleins Willen, morgen in der frühsten Stunde eine Leichenöffnung anzuordnen, und ich ersuche um Ihre Gegenwart, jedoch ohne Actuar.“

„So glauben Sie nicht an strafbare Angriffe auf das Leben der Dame?“

„Ich glaube an ein Unglück, mein Herr,“ erklärte der Arzt mit Zuversicht.




Als der Arzt sich allein befand, überblickte er nochmals schaudernd die aufgestellten Verdachtsgründe, womit das menschliche Vorurtheil zwei junge Menschen belastet hatte. So zuversichtlich er zuerst dem Beamten gegenüber jede Möglichkeit in Abrede gestellt hatte, so schwankend wurde er bei der nähern Prüfung, und wenn sich auch sein Herz noch immer fest und entschieden dagegen auflehnen wollte, sein Verstand nahm nach und nach Zweifel in sich auf. Die zerstörende Gemüthsaufregung des Fräuleins – sprach sie nicht von Reue und Verzweiflung? Des jungen Edelmannes tiefsinnige, schmerzliche Klage – verrieth sie nicht Gewissensbisse?

„Mein Gott, wenn das Urtheil der Welt Recht hätte!“ rief der Arzt, schauerlich bewegt. Es trieb ihn auf und hin zu der Stätte, wo sein reges Mitgefühl vielleicht an Unwürdige verschwendet worden war.

Obwohl noch keine Stunde verflossen war, seit er Fräulein Lucilie verlassen hatte, so empfing ihn die junge Dame dennoch mit der Aufregung und Hast, womit man Langerwartete begrüßt. Der Arzt beobachtete sie scharf. Was ihm bis dahin als Nervenaffection erschienen war, erhielt jetzt für ihn einen anderen Charakter. Die Ruhelosigkeit ihres Wesens zeigte weniger die Leidenschaft eines innern Schmerzes, als die Angst um einen Gegenstand an, der noch irdischer Sorge bedürftig war. Der Druck, der auf ihrer Seele lag, erschien ihm außerhalb der Grenzen, die ihr Verlust umzog. Ihr Auge wies keine Thränenspuren mehr auf, sondern das flackernde Licht der Spannung. Ein Schauer überlief den wackern Doctor, der in diesen Gesellschaftskreisen noch niemals dem

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 474. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_474.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)