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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Ueberraschung Minette und die Landgräfin, fast eben so eilig, wie er, vom Schlosse her desselben Weges kommen.

Minette erblickte ihn und stieß einen Schrei der freudigsten Ueberraschung aus.

„Der Wilhelm, der Wilhelm, da ist er!“

Die Fürstin blieb stehen und winkte ihn heran. Mit raschen Worten erzählte er sein Glück. Minette war außer sich vor Freude und vor Verwunderung darüber. Die Landgräfin ließ sich genau die Unterredung berichten, die Wilhelm mit dem Landgrafen gehabt. Lächelnd hörte sie zu, ohne ein Wort zu sagen.

„O, nun ist Alles, Alles gut!“ rief Minette ein Mal über das andere aus und hing sich an Wilhelms Arm, ohne die Nähe der Fürstin zu beachten.

Die Landgräfin eilte weiter. Nach wenig Schritten standen sie vor dem Gärtnerhause. Allgeyer saß auf einem Stuhle neben der Thüre; er sprang auf und ging der Landgräfin entgegen, während er halb verwunderten, halb zornigen Blicks auf die beiden jungen Leute starrte.

„Da bring’ ich Ihm Seinen Gehülfen wieder, Allgeyer,“ sagte die Landgräfin. „Die Minette ist des Wilhelm Braut, daß Er’s nur weiß. Sag’ Er nichts dawider oder ich bin seine gnädige Fürstin nicht mehr, böser, pflichtvergessener Mensch, der Er ist! – Wie kann er sich so von seinem Zorne hinreißen lassen, Seinen Gehülfen, der ein anstelliger, redlicher Mensch ist, unter die Soldaten schicken – seine Tochter unglücklich machen – hat Er denn gar kein Herz und kein Gewissen, Er böser Mensch?“

„Aber, Durchlaucht,“ stotterte Allgeyer, niedergedonnert von diesen Worten der sonst so gnädigen Fürstin.

„Nun, sei er nur still! Wie hat Er meine Grotte gehütet? Ich werde Jemand anderes damit betrauen müssen – soll ich Ihn fortsenden und den Wilhelm als Hofgärtner anstellen? Nehme Er sich in Acht, daß es nicht dazu kommt!“

Ueber Meister Allgeyers gewöhnlich hochgeröthetes Angesicht legte sich eine bronzefarbige, gar nicht näher zu beschreibende Blässe.

Er wollte antworten, aber die Fürstin winkte ihm zu schweigen, indem sie fortfuhr:

„Keine Entschuldigungen! Willigt Er darein, daß Minette den Wilhelm nimmt, so will ich Ihm diesmal verzeihen.“

Allgeyer verbeugte sich stumm und erleichtert aufathmend.

„Dann vorwärts und schließe Er eilig die Thüre zur Grotte auf.“

Das Letztere war bald geschehen. Die Fürstin winkte Allgeyer und Wilhelm, zurückzubleiben, Minetten, ihr zu folgen, und so stieg sie die Treppe in den Grottengang nieder, schritt rasch und mit jugendlicher Elasticität durch den letzteren hindurch und als sie in die kleine Rotunde am Ende desselben trat, rief sie bewegt aus:

„Mein Gott! Da sind Sie in der That!“

Goethe hatte sich von der Bank erhoben und schritt ihr entgegen, gemessen ruhig, sie groß und schweigend anblickend.

„Sie Aermster,“ fuhr die Landgräfin fort, „Sie waren einen ganzen Tag lang hier eingeschlossen!“

„Einen ganzen Tag?“ sagte der Dichter gleichmüthig und zerstreut.

„Nun freilich, seit diesem Morgen: sehen Sie denn nicht, daß das Licht aus diesem Raume zu weichen beginnt?“

Goethe fuhr mit der Hand über die Stirn.

„In der That,“ sagte er, „es will Abend werden.“

„Ohne Speise und Trank, wie in Ugolino’s Thurm, waren Sie eingeschlossen und Sie, Sie haben es am Ende gar nicht bemerkt?“ rief die Landgräfin verwundert aus.

„O doch, doch; ich erinnere mich, daß Niemand mich zu stören kam.“

Die Landgräfin lachte.

„In der That,“ sagte sie, „Sie nehmen das Ungemach, in welches Sie durch meine Schuld geriethen, so liebenswürdig auf, wie es nur irgend möglich ist. Doch ist es nichts desto weniger meine Schuld – ich wäre Ihre Mörderin, wenn Sie verhungert wären!“

„Wie Sie sehen, ich bin es nicht,“ antwortete Goethe, immer mit demselben Tone von eigenthümlicher Milde und gesammelter Ruhe.

„Sie sind es nicht, Gott lob, aber kommen Sie jetzt rasch aus diesem Gefängniß heraus – suchen Sie Ihren Gastfreund auf, und lassen Sie sich von ihm erquicken; es wird die höchste Noth sein,“ fuhr die Landgräfin in ihrer Lebhaftigkeit fort, welche einen so großen Contrast bildete mit dem seltsam einsylbigen, halb scheuen, halb wie gedankenvoll zerstreuten Wesen Goethe’s.

Da der junge Dichter am Morgen ein so ganz anderes Benehmen an den Tag gelegt, mit so viel Feuer und Lebhaftigkeit gesprochen und ihr gehuldigt hatte, so blickte die Landgräfin jetzt ihn forschend an; sprach aus dieser kühlen Ruhe Gereiztheit und Entrüstung über die fatale Gefangenschaft, in welche er gerathen? – war die Gleichgültigkeit, welche er zur Schau trug, nur eine erheuchelte? Jedenfalls hielt sie sich für verpflichtet, ihn durch irgend ein redendes Zeichen ihrer Huld zu entschädigen, und da die Gesellschaft jetzt die Grotte verlassen hatte und in der Hinterstube im Gärtnerhause angekommen war; wandte sich die Landgräfin, die voraus geschritten, zurück, und Goethe die Hand reichend, sagte sie:

„Hier sind Sie, Gott lob, der Freiheit wieder gegeben, mein junger Freund, und nun sagen Sie mir, was soll ich thun, damit der Gedanke an diesen Tag nicht von nun an stets Bitterkeit und Verstimmung in Ihnen hervorrufe? Es würde mich innig freuen, könnte ich Ihnen einen Wunsch gewähren, einen bleibenden Beweis meiner Theilnahme verleihen – oder nur ein Andenken mitgeben aus dem kleinen unterirdischen Reich, welches ich mir hier habe schaffen und bis heute auch vor jedem unberufenen Auge habe hüten lassen, um ein unnahbares Asyl zu besitzen, wo ich, ungestört von der Welt, nur mir selbst und meinen Gedanken leben kann! In der That, ein kleines Schmerzensgeld bin ich Ihnen schuldig!“

„Schuldig? Sie mir, durchlauchtigste Fürstin?“ fiel jetzt Goethe auf’s Lebhafteste ein – „o wüßten Sie, was ich diesem Tage, was ich Ihnen verdanke – denn wahrlich:

Was auch in meinem Liede wiederklingt,
Ich bin nur Einer, Einer Alles schuldig.
Es schwebt kein geistig unbestimmtes Bild
Vor meiner Stirne, das der Seele bald
Sich überglänzend nahte, bald entzöge.
Mit meinen Augen hab’ ich es geseh’n,
Das Urbild jeder Tugend, jeder Schöne –
Was ich nach ihm gebildet, das wird bleiben!“

Goethe verbeugte sich, während er diese Verse sprach, tief vor der Fürstin, die leicht erröthend fragte:

„Sind diese Verse die Frucht Ihrer unfreiwilligen Muße?“

„Sie und noch mehrere,“ antwortete er – „ich habe sie in dies Buch niedergeschrieben und – da meine gnädigste Fürstin mir einen Beweis Ihrer Huld lassen will, – so darf ich um das Geschenk dieses Buches bitten, damit ich vollende, was ich darin begonnen.“

Bei diesen Worten überreichte er der Landgräfin das Buch, welches er aus den in der Rotunde liegenden genommen, nachdem er es da geöffnet, wo die am Ende hineingebundenen weißen Blätter anfingen.

Caroline von Hessen warf einen Blick darauf. Sie las:

Torquato Tasso. Ein Schauspiel.“

Dann ließ sie ihr Auge über die nächsten Blätter gleiten, worauf in flüchtigster Schrift der Plan eines Dramas skizzirt, der Inhalt einzelner Scenen angedeutet, Bruchstücke des Dialogs hingeworfen waren. Endlich reichte sie dem Dichter das Buch zurück.

„Ich sehe,“ sagte sie, „die Muse hat Ihnen heute mehr gegeben, als ich je zu geben vermöchte. Aus Einer, die glaubt, gewähren zu können, werde ich zu einer Bittenden. Wenn Ihr Werk vollendet ist, so bringen Sie es mir, Sie selbst – darum bitte ich.“

Zugleich streckte sie ihm lebhaft ihre Hand entgegen, die er gerührt an seine Lippen führte.

„Und nun,“ fuhr sie mild lächelnd fort, „ängstige und kümmere sich noch Jemand um einen Dichter! Während unser Eins voll Mitleid und Sorge um sein Schicksal ist, hat er alle Noth der Erde und die Welt um sich vergessen und lächelnden Blicks, mit heiterer Stirn verkehrt er mit den Göttern und Heroen!“ –

„Dein Wilhelm aber,“ wandte sie sich dann weiter schreitend in demselben scherzenden Tone an Minette, „braucht auf diesen Herrn nie wieder eifersüchtig zu werden. Sein Herz gehört von nun an einer Andern, die, wenn sie auch längst todt ist, ihn ewig fesselt und abhält, je wieder seine Huldigungen sogleich beim ersten Anblick anderen Frauen entgegenzutragen! Sein Herz gehört Leonoren von Este … ist’s nicht so, mein Herr Doctor?“

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