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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

einander jeden Tag neun Mal auf den Knieen um das Grabmal herumrutschten. – Früher trieben die Geistlichen der Dymphne-Kirche auch officiell die Teufel des Wahnsinns aus, aber in neuerer Zeit ist dieses Geschäft ganz in Mißcredit gekommen. Die „Behörden“ haben neuerdings bestimmte Löhne für Wohnung und Kost der Geisteskranken in Gheel „vorgeschrieben.“ Diese officielle Vergütigung beträgt jährlich zwischen 70 und 100 Thaler. Die höhere Summe wird für Kranke bezahlt, die wegen besonderer Paroxysmen u. s. w. besondere Aufsicht und Sorgfalt verlangen. Für diese 70 bis 100 Thaler jährlich erhält der Kranke Alles, was zu seiner Existenz und Pflege gehört, mit Ausnahme der Kleidung.

Dies sind die nöthigsten Angaben über ein Institut, das die größte Beachtung und im Wesentlichen Nachahmung verdient, um so mehr, als man, trotz wohlthätiger Reformen in Irrenhäusern, noch nicht auf den Standpunkt gekommen ist, auf welchem Gheel schon seit Jahrhunderten stand, welcher diesen Unglücklichen ihre Lage so erträglich macht, wie sie überhaupt möglich zu sein scheint. Sie wohnen nicht in Gefängnissen, sie sind frei und können lichte Momente ohne Schrecken und Kummer ertragen, und ohne alle weitere Zuthat sehr oft als heil und gesund entlassen werden. Freiheit und Arbeit wirken sehr oft als radikale Heilmittel auch in diesen Krankheiten.




Die Frau des Dichters.

Es war ein milder, warmer Juniabend. Die Rosen blühten und dufteten, die Nachtigall sang ihr schmelzendes Liebeslied. In einer Laube des Reichelschen Gartens in Leipzig saß eine glückliche Familie, die herzensgute Mutter und zwei Töchter, von denen die jüngere einer ahnungsvollen Knospe glich. Charlotte Willhöft war eine reizende Erscheinung; mit ihrer schlanken ätherischen Gestalt, ihrem seelenvollen Auge, den edlen und feinen Zügen des lieblichen Gesichts bildete sie durch ihren sinnigen Ernst den Gegensatz zu ihrer heiteren, lebenslustigen Schwester Julie, welche an den Kaufmann Sickmann verheirathet war. Von Jugend auf zeigte das seltsame Kind eine wunderbare geistige Begabung, ein ungewöhnliches Streben nach dem Höhnen. So oft sie konnte, zog sie sich in die Einsamkeit zurück mit einem Buche in der Hand; dort überließ sie sich den schwärmerischen Gedanken ihrer jugendlichen Phantasie, der Sehnsucht nach dem Jenseits, den mystischen Träumen ihres von Frömmigkeit und unbegriffener Liebe überströmenden Herzens. Sie befand sich in dem schönen Alter, wo die Psyche, noch frei von jeder irdischen Last, ihre Schwingen entfaltet und im begeisterten Fluge sich zu ihrer himmlischen Heimath erhebt, der sie noch näher steht, als dann, wenn die Alltäglichkeit des gemeinen Lebens ihr die Flügel lähmt. Diesen angebornen Hang religiöser Schwärmerei hatte besonders ein verehrter Lehrer der Bürgerschule, welcher daselbst den Religionsunterricht ertheilte, in ihr genährt; als derselbe wegen seiner phantastischen Richtung angeklagt, zur Niederlegung seiner bisherigen Stellung sich genöthigt sah, faßte Charlotte als dreizehnjähriges Mädchen mit einer gleichgesinnten Freundin den Entschluß, an die Spitze ihrer Mitschülerinnen zu treten, und im Namen derselben ein Schreiben an die Direction der Anstalt zu verfassen, worin um Beibehaltung des geliebten Lehrers gebeten werden sollte.

Sie selbst war um diese Zeit fast anzusehen, wie eine kleine Nonne, und ihr ganzes Wesen erhielt einen klösterlich strengen Anstrich; sie hielt sich von den Zerstreuungen und Vergnügungen fern, welche ihre Jugendgespielinnen erfreuten; nur mit Mühe war sie zum Besuch des Theaters zu bewegen und in übertriebener, fast kindischer Askese entsagte sie dem Genüsse der Fleischspeisen, sich wie der fromme Hindu mit Pflanzenkost begnügend. Zum Glücke wirkte der heitere Familienkreis ihrer Schwester, in deren Hause sie fortan lebte, beruhigend und sänftigend auf ihre bedenkliche Richtung ein, so daß sie allmählich selbst von ihrer Strenge zurückkam, und der Erde und der Wirklichkeit wiedergegeben wurde; nur der fromme Ernst war ihr als eine Erinnerung an ihre religiösen Kämpfe geblieben, und bildete gleichsam den Grundton ihres Wesens. Als Vermittler zwischen dem Jenseits und Diesseits war in ihrer Brust die heilige Kunst erwacht, welche vollends die zurückgebliebene Beklemmung löste, und sie mit dem Leben versöhnte. Schon frühzeitig entwickelte Charlotte eine überraschend schöne Stimme und ein bedeutendes musikalisches Talent, das von den Ihrigen mit Sorgfalt gepflegt und ausgebildet wurde. Die Macht der Töne bewährte sich an ihr; die Schwermuth schwand und ein heiterer Friede zog in ihre Brust. Die verwandte Poesie wurde von der Musik geweckt, und unwillkürlich dichtete sie zu ihren Lieblingsmelodien die passenden Worte, von dem unwiderstehlichen Drange erfaßt, ihren Gefühlen einen bestimmten Ausdruck zu verleihen.

So wuchs das seltsame Kind zur wunderbaren Jungfrau heran, eine herrliche ahnungsvolle Blüthe, welche der Sonnenschein der Liebe erst vollkommen schließen sollte.

Eines Tages führte Charlottens Bruder einen jungen Mann in die Familie ein; derselbe war von Göttingen, das er wegen politischer Verbindungen verlassen mußte, nach Leipzig gekommen, um Philologie zu studiren. Heinrich Stieglitz war eine poetische Natur und selbst Dichter; er fühlte sich sogleich zu der ihm nur zu sehr verwandten Charlotte hingezogen. Beide hatten dasselbe Streben nach dem Ideal, dieselbe Verachtung der gemeinen Alltäglichkeit, den gleichen Hang und Drang zu einem künstlerischen Leben; nur daß in ihm ein vulcanisches, dämonisches Feuer brannte, welches ihn und Alles, was sich ihm näherte, zu verzehren drohte, während die Flamme der Begeisterung stiller und klarer in Charlottens Seele wieder brannte. Seine kecke Physiognomie, von den dunklen, schwärmerischen Augen durchleuchtet, sein ganzes auf das Höchste gerichtete Wesen, selbst ein gewisser Stolz, der zur Selbstüberschätzung seiner Kräfte führen konnte, sprachen sie an und ließen sie, sonst den Männern gegenüber scheu und verschlossen, an seinem Umgange Gefallen finden. Aufgefordert, seine Besuche zu wiederholen, sahen sie sich öfter und tauschten ihre Gedanken gegenseitig aus. Hauptsächlich bewegte sich der Inhalt ihrer Gespräche um religiöse Gegenstände, welche der aufkeimenden Liebe zum Anhalt dienten. –

So saßen sie auch heute in der blühenden Laube und während die Blumen dufteten, die Nachtigall sang, Mond und Sterne freundlich niederschauten, theilten sie ihre Gefühle über die göttliche „Bergpredigt“ des Erlösers mit, in der sich ihre sonst verschiedene Andacht begegnete. Die wackere, treffliche Mutter hörte zu, und sprach von ihrem Standpunkte mit, während die sorgsame Schwester ab und zu ging, um das Abendbrod zu bereiten. Charlotte hing mit Bewunderung an den Lippen des jungen Freundes, der mit dichterischer Begeisterung den inneren Kern des Christenthums vor ihr entwickelte, und von jener geistigen Kirche sprach, welche, abgesehen von allen äußeren Formen, die Auserwählten zu einem Bund der Liebe vereint. Ihre früheren streng gläubigen Ansichten erhielten durch seine Auffassung eine wesentliche Umwandlung; sie fühlte, wie sich während dieser Unterredung ihr Gesichtskreis nach und nach erweiterte, eine freiere Auffassung der Religion sich ihr aufdrängte und die dunkeln, asketischen Wolken von ihr wichen, ohne daß sie darum aufhörte, zu glauben und fromm zu sein.

Es war ihr, als würde sie von einer drückenden Last befreit, als gehörte sie erst jetzt wieder ganz der schönen Erde an, ohne darum den Himmel zu verlieren. Eine nie gekannte Heiterkeit bemächtigte sich ihrer Seele; sie hätte laut aufjauchzen mögen vor innerer Lust. So schön war ihr die Welt noch nie vorgekommen, so wonnevoll die Natur ihr noch nie erschienen. Sie liebte und dies Gefühl erfüllte sie mit nie gekannter Seligkeit.

Aber mitten in ihrem Glücke überschlich sie ein leiser Schauer, ihr ahnungsvolles Herz wurde plötzlich von einem unerklärlichen Bangen ergriffen, wie von einem Vorgefühl künftiger Schmerzen. Als Heinrich gegangen war, lagerten sich die dunkeln Schatten des kaum besiegten Ernstes über ihre Seele; sie empfand eine nie gekannte Unruhe, und Thränen entstürzten unwillkürlich ihren Augen.

So weint die junge Rosenknospe, wenn sie über Nacht die keusche Hülle sprengt; ein funkelnder Thautropfen glänzt in ihrem Kelch, der sich zum ersten Male den schmeichelnden Sonnenstrahlen erschließt.

So bald Charlotte allein war, griff sie zu ihrem Tagebuche, dem sie ihre geheimsten Gedanken anvertraute. Sie schrieb: „Nichts

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 395. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_395.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)