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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

der Weichsel (bei Dirschau), sondern auch eine solche ihres Nebenarmes, der Nogat (bei Marienburg), nöthig wurde.

Die nächste Frage war: „Was für eine Art von Brücke soll gewählt werden?“ Eine hölzerne – unter den vorliegenden Umständen und bei der Wohlfeilheit des Holzes in Westpreußen weitaus die billigste – würde dem Drange der Eisschollen auch nicht einen Winter über Widerstand geleistet haben; eine gemauerte wegen der vielen Pfeiler, die sie erforderte, den Strom zu sehr eingeengt, die Passage zur Uebergebühr beschränkt und im Winter die gefährlichsten Eisstopfungen herbeigeführt haben. Eine Drahtbrücke, wie sie nun in Vorschlag gebracht wurde, würde allerdings diese Hindernisse nicht hervorgebracht haben; aber Drahtbrücken eignen sich ihres steten Schwankens, ihrer leichten Durchbiegung, ihrer Unsicherheit wegen durchaus nicht für Eisenbahnen; so blieb also nur die Wahl zwischen der Röhren- und der ihr verwandten Gitterbrücke. Man entschied sich für die letztere, als die genialere Construction. Was aber ihre Herstellung so wesentlich erschwerte, das war die enorme Länge, welche sie erforderte. Sie mußte nämlich nicht etwa blos über den hier 1260 Fuß breiten Strom geführt, sondern es mußte auch noch der Raum zwischen dem Höhenzuge von Dirschau und dem Damme des linken Flußufers überbrückt werden; Alles in Allem eine Strecke von 2668 Fuß.

Dies ist nun auch, aber nur unter Anwendung der großartigsten Mittel, nach Besiegung unendlicher Schwierigkeiten, geschehen; Schwierigkeiten, welche anfänglich unüberwindlich erschienen. Der fette Boden verlangte mühsame Vorarbeiten für die Grundlegung der Pfeiler, und die Gemalt des Stromes, welcher namentlich zur Zeit des Eisganges mit Ungestüm zwischen den hohen Uferdämmen dahin schießt, machte es wieder nothwendig, ihm so wenig Pfeiler als möglich entgegenzustellen. So mußten denn die Pfeiler so kolossale Dimensionen annehmen, wie sie gegenwärtig darbieten: 80 Fuß in der Länge, 32 in der Breite. Solcher Riesenpfeiler sind im Ganzen sieben, von denen die an den beiden Enden die Landpfeiler, die anderen fünf die Strompfeiler heißen. Interessant ist die Art und Weise, wie die Strompfeiler gebaut sind. An der Stelle, wo ein solcher zu stehen kommen sollte, schlug man in der Größe und Grundform desselben eine Pfahlwand, welche durch Einrammen mittelst einer kolossalen Dampframme in eine möglichst große Tiefe versenkt wurde, während man den seit Jahrtausenden aufgeschwemmten Triebsand so weit als möglich herauszuschaffen suchte. In diese mit Wasser ausgefüllte Grube wurde demnächst ein Pfahlrost geschlagen und darauf eine eigenthümliche cementartige Mischung, Béton genannt, geschüttet, welche im Wasser vollständig zu Stein verhärtet. Auf diese, mehrere Fuß hohe Grundlage schüttete man längs der Pfahlwand einen Fangdamm bis über den Spiegel des Flusses, worauf das Wasser aus der Baugrube ausgepumpt und das Mauerwerk der Pfeiler aufgeführt werden konnte, zu welchem man vortreffliche, auf’s Sorgfältigste bearbeitete, granitne Steinquadern und Formsteine verwendete. Da, wo sich der eigentliche Wogenschwall und das Eis zu brechen hat, wählte man als Material spröde Basaltlava. Im Innern der Pfeiler sind theilweise Sandsteine von der porta Westphalica, meistens aber Ziegelsteine verwendet worden, welche in ungeheuerer Menge in der zu diesem Behufe eigens beim Dorfe Kniebau (unfern Dirschau) errichteten großen Ziegelbrennerei geformt und gebrannt wurden. Von der Großartigkeit dieser Pfeiler kann man sich einen Begriff machen, wenn man erfährt, daß zu ihnen allein in dem einen Baujahre 1856 3,478,000 Stück Ziegel, 14,240 Tonnen Béton und 1600 Schachtruthen (das ist soviel als 230,400 Kubikfuß), Formsteine verbraucht wurden.

So viel vom Baue der Pfeiler. Gehen wir nun zum zweiten Haupttheile der Brücke, zum Gitterwerke, über.

Der Ueberbau der Weichselbrücke besteht aus drei Theilen, deren jeder in einem Ganzen über zwei Brückenöffnungen reicht, mithin auf drei Pfeilern ruht. Die 37 F. 2 Z. hohen durchbrochenen Wände von Eisen, welche 20 Fuß „im Lichten“ von einander entfernt sind, bilden die Träger der Brücke. Ihrer Länge nach sind sie von verschiedener Stärke; der Widerstand, den sie dem Verbiegen entgegenstellen, ist, von je 6 zu 6 F. der Länge, der Wirkung des eigenen Gewichts der Brücke und der größten denkbaren Belastung überall angemessen bestimmt. Die Stäbe der Gitterwände haben verschiedene Querschnitte; die stärksten sind 5 Z. breit und 1 Z. stark, die schwächsten 4 Z. breit und nur 1/2 Z. stark. Sie überkreuzen sich unter rechten Winkeln von je 2 zu 2 Fuß der Gitterlänge und Höhe. Mit ihren Enden greifen sie über die verticalen Platten des unteren und oberen horizontalen Rahmens so lang hinüber, daß sie die zur größeren Befestigung dienenden Bolzen (die heiß eingetrieben und vernietet wurden) in einer ihrer Stärke entsprechenden Anzahl aufnehmen konnten. Die Haupttragfähigkeit der Gitter basirt in den „Gürtungen“ (den oberen und unteren Balken), während die dazwischen befindlichen Gitterwände nicht nur den oberen gegen den unteren Rahmen vollständig unveränderlich erhalten, sondern auch, je weiter sie von der Mitte entfernt sind, desto mehr selbst mittragen. Die Stärke der Gürtungen sowohl als der Gitterwände ist, den statischen Proportionen nach, verschieden und nach der Mitte des Trägers bedeutend zunehmend.

Der ganze Brücken-Ueberbau ruht unverschieblich nur auf der Mitte des ersten, dritten und fünften Pfeilers; alle anderen Punkte der mittleren und Endauflager sind für das Spiel der Längen-Aenderung mit Rollen versehen, welche zwischen geebneten gußeisernen Platten sich bewegen. Diese Längen-Aenderung, welche durch den Wechsel der Temperatur hervorgebracht wird, ist genau nach physikalischen Gesetzen berechnet, äußert sich an sechs Stellen der Brückenbahn und fordert einen fünf Zoll breiten Spielraum. Dieser wird innerhalb des Schienengleises mit Auszugsschienen, in den beiden Fuhrwerksbahnen zur Rechten und Linken desselben mit Bohlen, in den Fußgänger-Passagen aber – als solche dient eine an der Außenseite der Gitter zu beiden Seiten angebrachte Gallerie von 3 F. Breite, ein luftiger, Schwindel erregender Gang! – mit dünnen Eisenplatten stets überdeckt gehalten.

Für die seitliche Haltung des eisernen Ueberbaues auf den Pfeilern sind die Brückenthürme bestimmt, welche der Brücke vornehmlich das grandiose Aussehen verleihen und mit ihrem Mauerwerk, bis auf den geringen Spielraum für die Ausdehnung des Eisenwerks bei erhöhter Lufttemperatur, dicht an den eisernen Ueberbau schließen.

Die Höhe der Pfeiler vom untern Absatz (d. h. etwa vom Niveau des niedrigsten Wasserstandes an gerechnet) beträgt 35 Fuß; der höchste bis jetzt vorgekommene Wasserstand bleibt immer noch 12 bis 13 Fuß unter der Brücke. Sieht man die Gitter von der Seite her aus einiger Entfernung, so ist es schwer, das Durchbrochene, Lauben- und Spitzenartige des Baues zu erkennen. Ganz anders, wenn man die Brücke selbst betritt, und nun unter dem Gitterwerke dahinschreitet. Die imposante Höhe der Gitter (sie beträgt ja fast 40 Fuß!), welche über dem mächtigen Strome zu schweben scheinen; der eigenthümliche, hellklingende Luftzug, der durch die Gitter streicht; der Blick in die weite, nur am äußersten Horizonte durch Höhenzüge schwach begrenzte Ferne; der schöpferische Gedanke, der aus dem Werke redet; das Alles erzeugt einen Eindruck, der erhebend und überwältigend wirkt, ähnlich demjenigen, der uns ergreift, wenn wir das Schiff eines gothischen Domes durchschreiten und der Fuß zögernd nur die Quadern des Estrichs betritt, während die Blicke forschend und bewundernd zu den ihnen kaum erreichbaren Spitzbogen der Decke schweifen. Wie Geisterlispeln säuselt der Luftzug durch die hohen Münsterräume; heilige Schauer ergreifen uns, Bilder aus den längst entschwundenen Tagen, wo dieser Dom entstand, tauchen vor unserem inneren Auge auf: da dringt, die hehren Räume mit magischem Lichte übergießend, ein Strahl der Sonne durch die buntgemalten Scheiben der hohen Spitzbogenfenster und führt uns freundlich zur Gegenwart zurück.

Aehnlicher Art sind die Betrachtungen und Gefühle, welche uns ergreifen, wenn wir auf dieser Brücke stehen, den Blick in die Ferne gleiten lassen, und dabei Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dieses Riesenbaues erwägen. Jetzt steht das Werk als ein vollendetes vor unserem Auge. Der Reisende, der im glänzenden Waggon durch diese luftige Halle rollt, wird wohl kaum in einem unter hundert Fällen daran denken, daß zwölf Jahre (fünf der Vorarbeiten, sieben des eigentlichen Baues) erforderlich waren, dies Wunderwerk zu schaffen; wird weder der Gedankenarbeit in den Köpfen der kühnen Techniker, die es schufen, noch der tausend Handlanger sich erinnern, die, wenn sie auch nur Steine auf Steine legten, nur Eisen zum Eisen schweißten, dennoch dazu beitrugen, daß das Gedachte ins Leben trat und unsere Zeit und Deutschland ein Bauwerk erhielt, welches sich den kühnsten, herrlichsten baulichen Schöpfungen aller Zeiten und Länder dreist zur Seite

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 430. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_430.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)