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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

kleine Darstellung widmen, verdient es schon, daß ihn nicht allein die Nachwelt seines Geburtsortes kenne und nenne.

In einer der flachen Thalmulden, welche die Vorberge des nordwestlichen Thüringerwaldes in westlicher und nordwestlicher Richtung nach dem Hörselthale hin bilden, liegen die einzelnen, von Gärten und Feldern umgebenen, meist kleinen und unansehnlichen Häuser des langhingestreckten Dorfes Seebach. Zum Großherzogthume Sachsen-Weimar-Eisenach gehörig, grenzt seine Flur meist an das Herzogthum Gotha. Der berühmte Hörselberg, der jetzt auf allen Theatern spielt, ist nur eine kleine Stunde nördlich davon entfernt. Ruhla liegt kaum so weit westlich. Von der Anhaltestelle Wutha an der thüringischen Eisenbahn zwischen Eisenach und Gotha geht ein rüstiger Fußgänger in einer Stunde über das Dorf Farnrode mit seinem schmucken Schlosse und über den Hof Hucherode nach Seebach, ein grüner, angenehmer Weg, welcher das in geringer Entfernung aufsteigende Gebirge zur Rechten läßt. Die paar hundert Bewohner dieser bescheidenen Hütten treiben Ackerbau, Viehzucht und etwas Obstbau; auch nähren sich manche von Fabrikarbeiten für die Ruhlaer Kaufleute.

Westlich begrenzt der malerisch geformte, mit Buchenwald bepflanzte, in botanischer Hinsicht merkwürdige Wartberg, im Volksmunde „Markberg“ genannt, die Thalfläche.

Die in den benachbarten Thälern in geringer Entfernung von einander liegenden Dörfer Eichrodt, Farnrode und Seebach, der Weiler Wutha und der Hof Hucherode bildeten sonst die burggräflich Kirchberg’sche Herrschaft Farnrode unter der Lehnshoheit der Herzöge von Eisenach. Die Burggrafen von Kirchberg, ein uraltes thüringisches Adelsgeschlecht, dessen verfallenes Stammschloß bei Jena unter dem Namen des „Fuchsthurmes“ bekannt ist, hatten die Herrschaft Farnrode 1461 käuflich an sich gebracht und wohnten fast dritthalb Jahrhunderte dort. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts erbten sie die Hälfte der großen und reichen Grafschaft Sayn am Fuße des Westerwaldes im Fürstenthume Nassau-Weilburg und wohnten in der Hauptstadt derselben, Hachenburg. In Farnrode hatten sie nur noch ihre Kanzlei, ihre Rentkammer und ihr Unterconsistorium, welche die kleine Herrschaft in weltlicher und geistlicher Beziehung regierten.

Aus solchen Miniaturregierungen lassen sich viele Erscheinungen im deutschen Volksleben erklären, welche außerdem unverständlich sein würden. Wenn man das Heute und das Gestern in Deutschland genau kennen und verstehen lernen will, muß man durchaus diese eigenthümliche Zersplitterung der Herrschaft im vorigen Jahrhundert schärfer in’s Auge fassen, als gewöhnlich geschieht. Wer es auf einem Sommerausfluge in den an Natturreizen so reichen und deshalb in der neueren Zeit so stark besuchten nordwestlichen Thüringerwald der Mühe werth hält, einen Abstecher nach Seebach zu machen, der wird dann wohl auf den in der Mitte des flachen Thales am „Glockenhügel“ sich sanft emporziehenden Gottesacker und an die schmucke Kirche mit dem hübschen Thurme treten, und da werden seine Augen auf eine zur Rechten der Kirchthüre eingemauerte Votivtafel von Sandstein fallen, welche folgende Inschrift trägt: „Herren Johannes Dicel, ihrem vormaligen treugesinnten Mitnachbar und unvergeßlichen Wohlthäter, dem edlen Begründer aller hier bestehenden frommen Stiftungen für Kirche, Pfarrei und Schule, dem Erbauer dieses Gotteshauses, als Denkmal unvergänglicher Dankbarkeit geweiht am ersten hundertjährigen Stiftungstage dieser Kirche, den 28. Juni 1836 von der Gemeinde Seebach.“

An der steinernen Kirche hängt die Sacristei als kleiner hölzerner Anbau, worin mehrere werthlose christliche Schildereien zu sehen sind, darunter ein Bild von Bedeutung für den hier besprochenen Mann der es der Sage nach selbst gemalt hat. Es stellt eine Apotheke vor, und der Apotheker ist Christus, dem ein hilfsbedürftiger Käufer gegenüber am Ladentische sitzt. Die Wage zeigt uns in der einen Schale ein Crucifix als Gewicht, in der ändern wird „Absolution“ auf einem Zettel abgewogen, und ein kleiner Sündenbock hat sich unten an die Wagschale geklammert. Die Kasten, Schachteln, Büchsen und Flaschen tragen mystisch-religiöse Inschriften, wie „Geduld, Demuth, Gottesfurcht, Glaube, Liebe, Hoffnung, Friede, schweigsam, bescheiden, holdselig, keusch, gerecht, nüchtern, mäßig, dankbar, aufrichtig, sanftmüthig, mitleidig, freigebig“ etc. Außerdem ist das Bild noch mit passenden Bibelversen geschmückt. Wenn man sich erinnert, daß zu jener Zeit die Gegenden der Wetterau und Nassau der Sitz des tollsten Mysticismus und der Neuinspirirten waren (Berleburg, Büdingen, Nienburg etc.), wo der Sattler Rock seine Rolle spielte, so leitet diese gemalte Apotheke auf die richtige Vermuthung, daß durch die burggräfliche Familie, die von den mystischen Einflüssen in Hachenburg nicht unberührt blieb, ein geistiger Strom in diese einsamen Thäler am westlichen Fuße der Thürmgerwaldberge geleitet wurde und dem frommen Naturarzte zu gutem Gedeihen verhalf.

Im neuerbauten Pfarrhause so wie in der Kirche findet man gar nicht Übel gemalte Oelbilder von Dicel und seiner zweiten Frau, der Angabe nach von ihm selbst gemalt. Auch noch andere religionsgeschichtliche Oelbilder im Pfarrhause sollen von seinem Pinsel herrühren. Auf Verlangen des Besuchers wird der freundliche Pfarrer einige Actenvolumina und andere Schriftstücke aus dem Kirchenarchiv vorlegen, welche Dicel betreffen. In einem derselben erzählen des „hochgebornen Grafen und Herrn[WS 1] Georg Friedrich Burggrafen von Kirchberg, Grafen zu Sayn und Wittgenstein, Herrn zu Farnrode etc. gnädigst verordnete Räthe und Befehlshabern“ die Lebensgeschichte Johannes Dicels und stellen die von demselben gemachten Stiftungen und Legate zusammen, um zu erkennen zu geben, „daß der liebe Gott den Medicum Herrn Doctor Dicel in dem Burggräflich Kirchbergischen Dorfe Seebach zu einem ganz besonderen Werkzeuge seiner Ehre und Verherrlichung seines Namens ausersehen und nach seiner Weisheit ihn ganz wunderbarer Weise mit denen hierzu erforderlichen Eigenschaften ausgerüstet habe.“

Aus diesem Documente, aus den übrigen Schriftstücken, aus dem Kirchenbuche und dem Volksmunde, in welchem ein Mann wie Dicel natürlich noch ziemlich frisch, aber freilich auch schon mit der Glorie der Volkssage geschmückt lebt, ist die folgende kurze Darstellung seines Lebens und Wirkens genommen.

Johannes Dicel, 1676 zu Seebach als der siebente Sohn eines sehr armen, ehrlichen Leinwebers und Tagelöhners geboren, besuchte bis in’s 13. Lebensjahr die Dorfschule und arbeitete bis zum 18. als Leinweber, Drescher, Holzhauer, ging aber dann mit seiner verwittweten Mutter „in den noch immer anhaltenden Kriegs- und theuren Zeiten“ betteln. „Kleinhans“ wurde in seinem 20. Jahre nach dem Tode der Mutter von seinem ältern Bruder „Junghans“, der das elterliche Haus übernommen, ausgewiesen, und zeigte „ohne Rath und That und also in einem höchst betrübten Zustand“ große Lust zur Malerei, zu deren Erlernung ihm die damals regierende Burggräfin von Kirchberg, Magdalene Christine, 60 Thaler schenkte. „Weilen aber vor dieses Geld sich Niemand fande, welcher Ihme darinnen (in der Malerkunst) etwas Tüchtiges zu lernen (lehren) getraute, so ergriff Er vor sich den Pinsel, gienge damit aus und tünchte vor sich im Sommer, im Winter aber halff er denen Leuten dreschen.“ Schon im 21. Jahre heirathete er eine zwölf Jahre ältere Magd, zeugte drei Kinder, und ernährte seine Familie als Tüncher, Maler und Drescher, ja er schaffte sich sogar ein Häuschen für 37 Gulden „Markwehr“.

Seebach hatte ein uralte kleine, baufällig gewordene Kirche, unter dem Wartberge weit ab im Walde gelegen, so daß ihr Besuch im Winter kaum möglich war. Verschiedene Versuch, sich ein neues Gotteshaus zu schaffen, waren der Gemeinde mißglückt. Nun nimmt der 22jährige Kleinhans die Sache in die Hand, und bettelt als „Kirchencollectante“ in Thüringen umher, aber er bringt nicht viel zusammen; auch gestattet ihm sein armer Haushalt nicht, lange auszubleiben, und so wird aus dem Kirchenbau wieder nichts.

Der Volksaberglaube schrieb den siebenten Söhnen eine wunderthätige Heilkraft der Kröpfe mittels Bestreichen und Händeauflegen zu. So wurden denn schon früh dem Kleinhans als gebornem sympathetischem Arzte eine Menge Kröpfiger zugeführt. Ferner wird erzählt, seine Mutter sei eine sogenannte Krämerfrau gewesen, welche für die Aerzte und Apotheker der benachbarten Städte an dem an officiellen Pflanzen reichen Wartberge Kräuter und Wurzeln gesammelt, wobei Ihr Kleinhans geholfen. Dann fiel ihm ein Arzneibuch in die Hand, welches einer seiner Brüder gekauft, um sich selbst vom Krebs zu heilen, und er studirte dasselbe fleißig. Endlich soll er einen jener geheimnißvollen Männer, welche in den Volkssagen und schriftlichen Überlieferungen des Thüringerwaldes und Fichtelgebirges als Venetianer oder „Walen“ auftreten[1], krank im Gebirge gefunden, in sein Haus aufgenommen und für Wartung und Pflege die Bereitung von seltnen Arzneien von demselben erfahren haben. Genug, in seinem 30. Jahre war Kleinhans bereits ein in der Umgegend beliebter „Wunderdoctor“, dessen Arzneien man eine ungemeine Heilkraft zuschrieb.

Der Zulauf, zu ihm machte Aufsehen; die recipirten gelehrten Aerzte in Eisenach und Ruhla legten sich gegen Dicel’s Medicasterei;

  1. Wir besprechen diese eigenthümliche Erscheinung in einem späteren Artikel.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Herrn Herrn
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 463. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_463.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)