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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

No. 43. 1858.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Ein Kirchhofsgeheimniß.
Mitgetheilt vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“
(Fortsetzung.)


Wir waren auf unserem Rückwege bis an das Portal gelangt, durch welches wir in die Kirche eingetreten waren. Ich blieb stehen.

„Kehren wir noch einmal um, Schließer.“

„Zu Befehl.“

Es war das ewige ruhige „Zu Befehl.“

Ich kehrte zurück nach der Seitencapelle. Er folgte mir. Ich faßte an das Pförtchen, an die Breter, und drückte stark daran, daß er es sah. Sie gaben nach. Ich wandte mich rasch nach ihm um. Er stand ruhig und unbeweglich. Nun drückte ich stärker, die Breter gaben noch mehr nach; es entstand eine Oeffnung, durch die ich meinen Arm stecken konnte. Ich that es, und fühlte ein Schloß, eine Klinke. Ich drückte darauf. Die Thür öffnete sich. Ich blickte auf den Kirchhof. Die Thür hatte sich leicht geöffnet, ohne das geringste Geräusch.

„Was ist das, Schließer?“

„Die Thür ist zu öffnen, Herr Assessor.“

Kein Zug in seinem Gesichte hatte sich geändert. Seine Stimme war fest und ruhig, wie vorher.

„Ihr hattet mir gesagt, die Thür werde nicht gebraucht?“

„Ich weiß es nicht anders.“

„Ihr habt sie nie gebraucht?“

„Nein.“

„Schließer, erinnert Ihr Euch, wie Ihr mich vor sechs Jahren in einer Nacht auf dem Kirchhofe antraft?“

„Zu Befehl.“

„An welcher Stelle war es?“

„Ich weiß es nicht mehr.“

„Woher waret Ihr gekommen?“

„Um die Kirche herum.“

„In welcher Absicht waret Ihr um die Kirche herumgegangen?“

„Ich mache jede Nacht einen Umgang um das ganze Amt.“

„Zu welchem Zweck?“

„Die Bewachung des Amtes gehört zu meinem Dienste.“

„Warum jagtet Ihr mich von dem Kirchhofe?“

„Es war meine Pflicht, ich kannte den Herrn Assessor nicht.“

Und bei dem Allen blieb er der kälteste, der ruhigste, der unbefangenste Mensch. Auch mein letzter Versuch war also mißglückt.

Ich hatte nichts, als eine Thür, die geöffnet werden konnte. Was hatte ich mit ihr gewonnen? Ich verließ mißmuthig die Kirche und verabschiedete den Schließer Martin Kraus.

Es war neun Uhr Abends. Ich wollte auch das Amt verlassen und zu meinem Gasthofe zurückkehren. Da fiel mir eine Pflicht der Höflichkeit ein. Ich hatte den ganzen Tag während der Einführung in mein neues Amt nicht daran gedacht, mich nach dem Befinden des kranken Amtmanns zu erkundigen. Die Sitte hätte es erfordert, zumal da er noch immer der Vorgesetzte war, den ich nur einstweilen vertrat. In dem kleinen Leben des kleinen Städtchens konnte man den Verstoß mir doppelt übel nehmen. Ich mußte ihn wieder gut machen. Ich entschloß mich kurz und rasch, mich in seine Wohnung zu begeben, einen Dienstboten zu fragen, wie es dem Kranken gehe, und mein Compliment machen zu lassen.

Die Dienstwohnung des Amtmanns befand sich in dem obern Flügel des Amthauses, des alten Klosters. Sie war mir noch aus früherer Zeit bekannt. Er bewohnte jenen Theil des Gebäudes mit seiner Familie allein. Ich ging dahin.

Die Hausthür stand offen. Ich trat durch sie in einen dunklen Flur. Nach fünf bis sechs Schritten erreichte ich eine steinerne Treppe, die in den obern Stock des Hauses führte. In dem obern Stock lagen die Wohnzimmer der Familie. Ich stieg die Treppe hinauf, sie war gleichfalls dunkel. Als ich ihr oberes Ende erreicht hatte, befand ich mich erst recht in vollkommener Finsterniß.

Ich glaubte mich noch zu erinnern, daß ich in einem langen Gange sein müsse, an dessen beiden Seiten die Wohnzimmer lägen. Aber ich wußte nicht, ob ich mich rechts oder links wenden müsse.

Ich stand unschlüssig. Ich war langsam die Treppe hinaufgestiegen. In dem Hause des Kranken mußte ich eine tiefe Stille erwarten, die ich auch überall fand. Ich wollte sie nicht durch ein Geräusch stören, das nur zu leicht in die Stube des Kranken selbst hätte dringen und, zumal in so später Abendzeit, Unruhe verursachen können.

Auf einmal, als ich oben am Ende der Treppe stand, hörte ich in dem Gange, nicht weit von mir, Jemanden leise sprechen. Ich erkannte die Stimme sofort. Es war die heisere, kurzathmige Stimme des kränklichen Schreibers Karl Brunner. Ich dachte im ersten Augenblick, irgend ein gleichgültiges Geschäft habe ihn hergeführt; vielleicht auch, meinte ich, wohne er im Hause, und er mache eine Bestellung an einen Dienstboten. Ich wollte ihn ausreden lassen, um dann an ihn mich zu wenden, und durch ihn mein Anliegen auszurichten. Daß er leise sprach, konnte mir in der Nähe des Kranken nicht auffallen.

Allein ich verstand bald, was er sprach, und als ich es verstand, und als ich hörte, was ihm geantwortet wurde, und wer ihm antwortete, welche andere Richtung erhielten alle meine Gedanken! Die Tochter des Amtmanns war es, die ihm antwortete, jenes

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 609. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_609.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)