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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

„Aber ich konnte nicht, ich kann nicht sterben, ohne nach meinen Kräften Alles gethan zu haben, was sie minder schwer machen kann. Und dann mußte ich ein neues Verbrechen verhüten. Martin Kraus ist zu dem Aeußersten fähig, um meine Ehre auch nach meinem Tode zu bewahren, er hat es mir geschworen. In dem Augenblicke, in welchem er weiß, daß Ihre Ahnung von der Existenz des Gefangenen zur Gewißheit geworden ist, zur Gewißheit werden könnte, hat der Wahnsinnige aufgehört zu leben, und Martin Kraus wird den Leichnam Ihnen spurlos entziehen. Kommen Sie ihm zuvor.

„Ich habe lange geschwankt, ob ich Sie mit dem fürchterlichen Geheimnisse bekannt machen solle. Ich mußte es, der nahende Tod forderte, fordert es von mir.

„Retten Sie den Unglücklichen, er ist zugleich ein Unschuldiger. Auch in seinem Wahnsinne spricht er sich frei. Er würde sich anklagen, verurtheilen, wenn er schuldig wäre. Erleichtern Sie ihm seine dunklen Tage. Thun Sie es mit möglichster Schonung meines armen Kindes. Sie ist so brav, und hält mich für so brav.“

Der Kranke mußte hier innehalten, das liebevolle Vaterherz hatte an dem Rande des Grabes noch Thränen, und welche bittre Thränen für sein armes Kind!

Nach einer Pause sprach er weiter:

„Die Keller, in denen der Gefangene sich befindet, liegen unter meiner Dienstwohnung. Sie haben einen besonderen Eingang, rechts nach der Seite des hohen Speichers. Unter diesen her zieht sich einer ihrer weiten Arme; er zieht sich bis unter die Mitte des Kirchhofes. Es ist gleich vom Eingange rechts. An seinem äußersten Ende befindet sich links ein verschließbarer Raum, in diesem werden Sie den Gefangenen finden. Sie werden Gewalt anwenden, wenn Martin Kraus nicht mit Güte Sie hinführen will.“

Er machte eine neue Pause. Dann sagte er noch ein paar Worte:

„Schonen Sie auch, so viel Sie können, des Schließers Martin Kraus. Sein Verbrechen war nur seine Treue für mich. Und nun, mein Herr, handeln Sie, wie Ihre Pflicht, wie aber auch Ihr Herz es Ihnen eingibt.“

Er schwieg. Ich stand auf. Er reichte mir noch seine Hand, und drückte die meinige.

„Leben Sie wohl. Wir sehen uns hier nicht wieder. Nehmen Sie sich meines armen Kindes an.“

Ich ging, ich ging tief erschüttert. Meine Neugierde war jetzt befriedigt, endlich, nach so langer Zeit, Aber wie konnte ich an ihre Befriedigung denken? Eine furchtbare Last drückte mich fast zu Boden.

Im Gange vor der Thür trat die Tochter des Sterbenden mir entgegen. Sie hatte auf mich gewartet, und sah mich ängstlich fragend an.

„Sie waren so lange bei ihm,“ sagte sie, „darf ich ihn fragen, was er mit Ihnen gesprochen hat?“

Durfte sie es?

„Fragen Sie ihn nicht,“ antwortete ich ihr. „Sie werden ihn ruhiger finden, und er bedarf der Ruhe.“

Ich eilte fort.

Auch die Arme hatte ja eine Ahnung, nicht blos der Sohn des Gefangenen, wie der Sterbende gemeint hatte. Jenes Gespräch mit dem kränklichen jungen Menschen hatte es mir verrathen. Durfte er auch die Ahnung seines Kindes kennen?

Aber was hatte ich jetzt zu thun? Ich hatte eine schwere, traurige Aufgabe, und mußte mich ihrer Lösung unterziehen. Nicht blos das Vermächtniß des Sterbenden, meine eigene Pflicht forderte es von mir, meine amtliche, wie meine menschliche Pflicht. Von einem neuen Verbrechen hatte der Amtmann gesprochen, das verhindert werden müsse. Ich war auch nicht zweifelhaft, wie ich jener Lösung mich zu entledigen hätte. Der Amtmann hatte nicht eine sofortige Verübung des Verbrechens gefürchtet. Ich war besorgter darüber, als er. Ich mußte es sein. Er wußte nicht, daß ich noch unmittelbar vor meiner Unterredung mit ihm, unter Zuziehung des Schließers, die alte Kirche durchsucht hatte. Die Nachsuchung war zwar ohne alles Resultat geblieben, hatte mich diesem um nichts näher geführt, aber sie hatte dem finsteren, mißtrauischen, entschlossenen Manne die Energie zeigen müssen, mit der ich auf Verfolgung meines Verdachts beharrte. Wie leicht konnte ihn das zur sofortigen Ausführung seines angedrohten entsetzlichen Verbrechens veranlassen!

Ich begab mich aus der Wohnung des Amtmanns gerades Weges in die des Schließers Martin Kraus. Ich ging allein hin.

Einen Augenblick hielt ich unterwegs meinen Schritt an. Ich ging einen gefährlichen Gang. Ich wollte zu dem Schließer und dann weiter mit ihm allein gehen. Ich war ohne alle Waffen, ich trug nicht einmal einen Spazierstock bei mir. Er war, wie viele Jahre er mehr zählte, als ich, mit seinem riesigen Körperbau mir noch immer an körperlichen Kräften weit überlegen. Er konnte zu dem Gange, den ich mit ihm vorhatte, sich mit Waffen versehen. Ich ging mit ihm einen Gang, der ihn zur Verzweiflung führen konnte, führen mußte. Er war zu einem fürchterlichen Verbrechen entschlossen. Die Ehre des Amtmanns, diese von ihm mit der rücksichtslosesten Entschlossenheit vertheidigte Ehre hing daran. Nicht minder seine eigene Ehre, seine Existenz, sein Leben. Von diesem Verbrechen wollte ich ihn zurückhalten, mit Gewalt, wenn es sein müßte! Aber ich mußte allein gehen. Die Ehre des Amtmanns, die auch ich nach Möglichkeit schonen mußte, forderte es von mir, und auch meine eigne Ehre.

Der Schließer Martin Kraus wohnte in dem Gefangenhause neben dem Amthause. Er war zu Hause, in seiner Stube. Der finstere Mann war ohne Familie. Er saß in einem alten Lehnsessel, die Beine über einander geschlagen, aus einer alten Pfeife rauchend, durch den Tabaksdampf vor sich hinstarrend.

Ich war zu ihm eingetreten, ohne mich vorher anzukündigen. Er erschrak nicht, er fuhr nicht auf, als er mich plötzlich erblickte. Er sah mich nur einen Augenblick wie mit leiser Verwunderung an, dann stand er auf, legte seine Pfeife fort, und stellte sich, meine Befehle erwartend, aufrecht vor mich.

„Schließer, zündet Eure Laternen an.“

„Beide, Herr Assessor?“

„Beide.“

Er zündete die beiden Laternen an, die uns in der Kirche geleuchtet hatten. Ich nahm wieder die Blendlaterne.

„Ihr werdet mich in die Keller unter der Wohnung des Herrn Amtmanns führen.“

„Zu Befehl, Herr Assessor.“

„Und dort zu dem, der sich bis unter den Kirchhof zieht.“

„Zu Befehl.“

Er ging an einen alten Koffer, der in einer Ecke der Stube stand, schloß ihn auf und nahm ein paar große Schlüssel heraus. Den Koffer verschloß er wieder.

„Ich stehe dem Herrn Assessor zu Befehl.“

Er war bei dem Allen vollkommen so ruhig, wie er auf dem Gange in die Kirche gewesen war. Einmal glaubte ich sogar ein leises spöttisches Lächeln in seinem harten Gesichte zu bemerken.

Wir verließen seine Wohnung. Es war zwischen zehn und elf Uhr in der Nacht. Auf dem Hofe, in den Gebäuden rings umher war Alles still. Nur in dem Wohnhause des Amtmanns waren ein paar Fenster erleuchtet. Sonst überall eine Finsterniß, so vollkommen wie die Stille.

Wir gingen durch Nacht und Stille, Niemand begegnete uns, Niemand sah uns. Wir gingen schweigend, der Schließer vor mir, ich unmittelbar hinter ihm. Wir kamen an der ganzen Länge des Klostergebäudes vorüber. Als wir sein Ende erreicht hatten, bogen wir links um die Ecke. Nach wenigen Schritten gelangten wir an eine niedrige, halb unter der Erde liegende Thür. Der Schließer schloß sie mit einem seiner Schlüssel auf. Sie öffnete sich leicht. Wir traten in einen Kellerraum.

„Soll die Thür offen bleiben?’ fragte mich der Schließer.

Ich durfte ihm keine Spur einer Furcht zeigen.

„Verschließt sie.“

Er verschloß sie von innen.

Ich sah mich in dem Raume um. Er schien vor mir ohne Ende zu sein. Das Licht der Laternen brach sich an kleinen, niedrigen Pfeilern und nicht hohen Gewölben. Pfeiler und Gewölbe waren dunkelgrau, beinahe schwarz, sie schienen bei dem schwachen Lichte sich in’s Unendliche auszudehnen. Wir traten weiter in den ungeheuern Raum hinein. Nach wenigen Schritten waren wir an einem breiten Gange. Er wurde durch Mauern gebildet, die eben so dunkelgrau waren, wie jene Pfeiler und Gewölbe. Er lag zur rechten Seite. Martin Kraus führte mich in ihn hinein. Er zog sich ein Dutzend Schritte weit fort abschüssig in die Tiefe; dann wurde er eben, aber er bog sich immer mehr und mehr nach rechts. Wir mußten so, ganz wie mir der Amtmann gesagt hatte, unter den großen Speicher und unter diesem hinweg unter den Kirchhof kommen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 622. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_622.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)