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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

zu gewissen Zeiten bei tiefer Nacht und Windstille hörbar wurden.

Aber auch der Capitain und die übrige zum größeren Theil hier heimische Mannschaft der „Olga“ theilte unser Staunen, um nicht zu sagen, unser Entsetzen. Kein Mensch auf dem Schiffe hatte je – das war unverkennbar an der Haltung Aller zu gewahren – solche schauerliche Töne und Stimmen vernommen. Henricksen’s Frage, was wohl die Ursache dieses Geräusches sein könne, beantwortete der Capitain mit einem barschen:

„Ich weiß nicht!“

Es war Mitternacht, als sich diese markdurchschütternden Töne hören ließen. Um ein Uhr war Alles wieder still, und der lautloseste Friede lag über Meer und Land. Etwa eine Stunde vor Sonnenaufgang hob sich der Nebel, wir erkannten die Küsten zur Rechten und sahen, daß wir nur etwa eine Stunde in gerader Richtung davon entfernt sein mochten. Zwischen Schiff und Land aber lag ein felsiges Eiland, dem Ansehen nach völlig unbewohnt, und über diesem Eilande zitterte ein grau-weißer Schatten, als steige aus tiefer Felsschlucht Rauch auf.

Der Capitain betrachtete diesen Felsbrocken geraume Zeit sehr genau durch sein Fernrohr, ohne sich weiter gegen uns über sein Denken auszulassen.

Als die Sonne höher stieg, kam auch wieder Bewegung in die Luft. Das Meer kräuselte sich, wir konnten die Anker lichten, setzten möglichst viele Segel auf, und erreichten noch vor Abend die Rhede von Reval.




V.
Sturm und Schiffbruch.

Von einem frühen Winter überrascht, waren wir genöthigt, Monate lang hier zu verweilen. Wir hatten demnach Zeit, dem Manne nachzuspüren, der uns vor Allem interessirte. Das war jedoch mit sehr großen Schwierigkeiten verbunden. Es ließ sich nichts ermitteln, als daß Torkel Veen aus Gründen, die uns verborgen blieben, den „Pawlowsk“ verlassen hatte, und gleich darauf verschwunden war. Es gelang uns, ehemalige Freunde des Mannes aufzufinden, aber auch von diesen war nichts zu erfahren. Höchst wahrscheinlich hätten sie sprechen können, wenn nicht Furcht oder Angst, vielleicht gar ein furchtbarer Eid, ihnen Stillschweigen gebot. Unsere Vermuthung, es müsse mit dem von uns Gesuchten sich etwas ganz Ungewöhnliches zugetragen haben, gestaltete sich mehr und mehr zur Gewißheit.

So verging der Winter, ohne uns dem ersehnten Ziele auch nur einen einzigen Schritt näher zu bringen. Henricksen verfiel wieder in seine frühere melancholische Stimmung, und ich selbst verlor ebenfalls meine angeborene Heiterkeit. Ich sah mit Sehnsucht dem Zeitpunkt entgegen, wo die starre Eisdecke brechen, und wärmere Lüfte uns die Wasserstraße nach der milderen Heimath wieder öffnen würden.

Gerade im härtesten Winter machten einige verwegene Menschen in der Umgegend Reval’s viel von sich reden. Im Innern des unermeßlichen russischen Reiches waren Verbrecher auf ihrem Transport nach Sibirien ihren Wächtern entsprungen. Sie entkamen wie durch ein Wunder ihren Verfolgern, gewannen die nordischen Küstenstriche, und verschwanden hier jeglichen Nachstellungen. Man erzählte sich, daß sie versteckt auf den unzähligen Klippen der finnischen Bucht hausten, und früher eine Art Seeräuberleben geführt hätten. Schiffe waren von diesen waghalsigen Flibustiern niemals belästigt worden; überhaupt hatten sie sich der Sage nach in ihren gebrechlichen, aber mit unglaublicher Kühnheit geführten Fahrzeugen niemals auf offener See, sondern nur zwischen den zahllosen Klippen und Felseninseln der Küste gezeigt. Es mußten sich demnach auch tüchtige Seeleute zu diesen verzweifelten Menschen gesellt haben. Daß die große Menge jegliches Verbrechen, jede Schandthat nur diesen gleichsam unsichtbaren Räubern zur Last legte, war Selbstfolge.

Henricksen gab zuerst meinen eigenen Gedanken Worte, als die Kunde von einem mehrfachen Morde, der erst kürzlich verübt worden sein sollte, mehr als je von der gefährlichen Bande sprechen machte. Die fest zugefrorene Bucht war für diese gewissenlosen Räuber ein Terrain, auf dem sie sich nach Belieben tummeln konnten.

„Wenn Torkel Veen noch lebt,“ sagte Henricksen, „so hat er sich gewiß diesem Gesindel zugesellt. Ich besorge sogar, daß er mit unter den Verbrechern gewesen ist, die in so unbegreiflicher Weise ihre Flucht auf dem Transport veranstalteten. Damit hängt wahrscheinlich jene dunkele Geschichte zusammen, die unser Capitain nicht genau kennen will. Aus einem Mörder ist zuletzt ein Raubmörder geworden.“

„Unmöglich wäre dies nicht,“ gab ich zur Antwort, „doch kommt es mir auch nicht recht wahrscheinlich vor.“

„Mir desto mehr, Tom Peter. Jetzt erkläre ich mir auch jene entsetzlichen Töne in der Nacht vor unserer Ankunft in Reval. In dem öden Felsenhorn in der Bucht, unfern einer wenig bevölkerten Küste hat das Volk seinen Versteck. Dorthin schleppen sie ihre Beute, dort entledigen sie sich aller unbequemen Zeugen ihres Thuns, die sie verrathen könnten, dort zechen und schwelgen sie in den Reichthümern, die die verabscheuungswürdigsten Verbrechen ihnen liefern.“

„Wenn dies im Ernst Deine Ueberzeugung ist, dann wäre es Pflicht für Dich, Anzeige von unserer Entdeckung zu machen.“

„Um sich von den Behörden hudeln zu lassen? Dazu habe ich keine Lust.“

„Aber Du begegnetest vielleicht dem Räuber Marie Anne’s!“

Henricksen zitterte vor Aufregung, indeß faßte er sich bald wieder.

„Ich will es doch lieber nicht thun,“ sagte er. „Wie leicht könnte auch ich mich vergehen bei solch’ einem Zusammentreffen, und statt mich zu rächen an einem Todfeinde, fiele ich mit dem Brandmale des Verbrechens behaftet, den Schergen in die Hände.“

Damit endigte unsere Unterredung. Die umlaufenden Gerüchte verloren sich, man entdeckte weder die beispiellos frechen und in ihrer Frechheit glücklichen Räuber, noch konnte man die Spuren derer auffinden, die aller Wahrscheinlichkeit nach als Opfer den verbrecherischen Menschen in die Hände gefallen waren.

Endlich änderte sich die Witterung. Milde Südwinde brachen das Eis, das Wasser ward frei und auf allen Werften, in allen Häfen rührten sich tausend Hände.

Die „Olga“ ward neu aufgetakelt und mit nordischen Producten befrachtet. Mit dieser Ladung sollte sie nach Leith abgehen. Der Capitain schien froh zu sein, wieder sein Schiff unter sich zu fühlen. Er heuerte noch ein paar kräftige Jungen, um nicht Mangel an Mannschaft zu haben, verproviantirte sich reichlich und auf einen Monat länger, als eigentlich nöthig gewesen wäre, und wartete auf die erste günstige Brise, um den Anker zu lichten.

Es war Ende April, als wir auf die Bucht hinaussteuerten, in der noch Eis in Masse trieb. Aber wir hatten Vorkehrungen gegen den Anprall scharfer und schwerer Schollen getroffen, so daß wir ohne Furcht uns auf die hohe See wagen durften. Plötzlich eintretendes Sturmwetter freilich würde auch diese Vorsichtsmaßregeln zu Schanden gemacht haben.

Ich weiß nicht, ob es Zufall war oder Absicht, genug, die „Olga“ segelte bei scharfer Brise nur etwa drei Kabellängen an dem zackigen, strauch- und baumlosen Felseneilande vorbei, über dem wir auf der Hinreise am Morgen nach der windstillen Nebelnacht die verdächtige Rauchwolke aufwirbeln sahen.

„Der denkt, wie ich,“ flüsterte Henricksen mir zu, als er den Capitain das Fernrohr auf die unbewohnte, ziemlich umfangreiche Klippe richten sah. Etwas Verdächtiges war nicht zu entdecken. Das Meer wogte in weißen, schäumenden Brandungen um das schwarze Granitgestein und ein Schwarm gefräßiger Seevögel wogte über dem fast gespenstisch anzusehenden Eilande hin und her. Traf ein Strahl der noch matten Sonne ihr Gefieder, so schimmerte es weißlichgrau und glich dann fast aufwirbelndem Rauche.

„Was meinst Du, Henricksen,“ sprach ich, „sollten uns die eigenen Augen wohl im Herbst vorigen Jahres geäfft haben?“

Henricksen antwortete nicht und der Capitain stieß offenbar verdrießlich sein Fernrohr zusammen. Die „Olga“ fuhr unangefochten, nur von dem Gekrächz des Raubgevögels begleitet, an der düstern Klippe vorüber.

Aber die Ostsee hat, wie bekannt, böse Tücken. Kaum waren wir auf der Höhe von Oesel angelangt, als es zu blasen begann, wie im tiefsten Herbst. Die Luft ward dick von Nebel und dabei so kalt, daß Raaen, Stangen, Spieren und alles Tauwerk sich mit glasiger Eiskruste überzog und der Mannschaft die Arbeit auf Deck zur Qual machte. Die See ging ununterbrochen hoch und ihre scharfen, harten Wellen schlugen mit so fürchterlicher

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 715. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_715.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)