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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

sein Papa schickt? Ich hätte meine Mama nicht so lang warten lassen; ich hätte meine Mama gleich Getreide schickt. – Wo nur meine Mama is?“ setzte sie darauf seufzend hinzu.

Doch nahm sie durchaus nicht Alles so ohne Weiteres als baare Münze hin, was geschrieben stand. Sie frug ihren Lehrer viel die Kreuz und Quere, und machte oft Einwürfe so verfänglicher Art (wie ja auch Kinder oft Fragen thun, die Erwachsene in Verlegenheit setzen), daß deren Beantwortung ihre Schwierigkeit hatte. Besonders in Bezug auf die biblischen Wunder und Gleichnisse bekundete sie schon zeitig einen gewissen skeptischen, grübelnden Rationalismus, der gleich dem Kern der Sache entschieden zu Leibe ging und keine Ausflüchte dulden wollte. So sagte sie einst zu Eck, nachdem ihr dieser die Frage, ob die Schlange im Paradiese denn sprechen gekonnt habe, verneint hatte, indem sie mit der Hand schnell über das aufgeschlagene Buch strich, voll Entschiedenheit: „Dann ist auch die ganze Geschichte nicht wahr!“ – Es waren Aeußerungen derselben Intelligenz, die man bei Kindern sonst als Symptome frühreifer Kritik mit dem Namen „Naseweisheit“ belegt.

Doch wenden wir uns jetzt einmal zu Carolinens Stellung im Hause und in der Familie, so erscheint sie uns dort von einer ganz andern und minder erfreulichen Seite, als im Unterricht. Sie entfaltete im Hause durchaus nicht jenen Lern- und Arbeitstrieb, jene Anstelligkeit, wie Herrn Eck gegenüber, gab dagegen häufig genug wegen großer Eigenwilligkeit, Launenhaftigkeit und Unliebenswürdigkeit Anlaß zu gegründeten Klagen. Doch maß Herr Eck die bei Carolinen zu Tage tretenden Fehler um so mehr einer „unrichtigen Behandlung“ zu, als ihr Betragen ihm gegenüber, der sich liebevoll wie ein Vater ihrer annahm, fast durchweg tadellos war. Ihm gegenüber war sie aber auch stets bemüht, sich im besten Lichte zu zeigen, und das bis fast ganz zuletzt. Er glaubte sie unschuldig wie ein Kind, gleichsam direct aus den Händen der Natur überkommen zu haben; ihm war sie wie ein „rohes Ei,“ das Niemand anzugreifen verstand, ohne es zu verletzen, und an dessen zartes Seelenleben sich der Rost und Schmutz dieser Welt nur zu leicht ansetzte.

Aber auch auf kleinen Unwahrheiten ließ sich Caroline bald – doch niemals von Herrn Eck – betreten, wußte sich dagegen bei diesem jedesmal so glänzend herauszuschwatzen, daß sich ihm schließlich alle jene angeblichen Unwahrheiten immer in leere Mißverständnisse (diese ohnehin ja so leicht möglich bei einem eingeschüchterten Geschöpf, das die Sprache seiner Umgebung nicht gründlich versteht und spricht!) und in die natürlichen Folgen „falscher Behandlung“ Carolinens auflösten. Aber selbst die, welche sie hin und wieder belog, bezweifelten deshalb keineswegs den Kern ihrer abenteuerlichen Geschichte: der kolossale Bau derselben stand doch zu fest in sich geschlossen, um durch etwelche kleine Lügen sich erschüttern zu lassen. Und einzelne Ungläubige, die vielleicht auch ihre vornehme Abkunft in Frage stellten, bezweifelten doch keineswegs, daß sie bei ihrer Hierherkunft kein Wort Deutsch gekonnt habe.

Acht Monate lang war Caroline in der Familie der Wittwe geblieben, als wegen beabsichtigter Aufgabe des Putzgeschäfts ihrer Tochter Caroline am 1. August 1855 in der Familie des Kaufmanns K. Aufnahme fand, und die freundlichste dazu. In dieser Familie, wo sich die für ihre Entwicklung nothwendigen Bedingnisse alle zu vereinigen schienen, ist sie bis zum Mai 1857 verblieben. Aber auch hier entfaltete sie nicht mehr häusliche Tugenden, obwohl ihr die Familie viele Wohlthaten erzeigte und z. B. von ihrem Kostgelde 160 Gulden für sie zur Sparcasse einschreiben ließ, wo sie jetzt noch stehen.

Ihre Uebersiedelung in die K.’sche Familie ging im August vor sich; im December desselben Jahres erschien die Broschüre. In Bezug auf diese bleibt uns noch eine wunderbare Thatsache hier zu erwähnen: daß sich Caroline zwar manchmal in ihrem hiesigen Leben auf Unwahrheiten, nie aber auch nur auf dem leisesten Widerspruch bezüglich der doch rein erfundenen Geschichte ihrer Vergangenheit betreffen ließ! Und dies, sowie ihre Verstellung im Punkte der Sprache ist es, was wir als die beiden Gipfel ihrer Kunst bezeichnen müssen.

Bekanntlich hatte sie das Schloß ihrer Väter, besonders aber die unterirdische Wohnung im Walde bis in die eingehendsten, minutiösesten Details herab zu schildern gewußt, in allen Einzelheiten des Ameublements und der ganzen Einrichtung, sogar mit Angabe vieler Größen und Maße, wie das Alles Herr Eck dann in seiner Schrift mit Walter Scott’scher Breite und Anschaulichkeit wiedergegeben hat. Nun durfte sie aber Herr Eck noch nach Jahren, ganz unvorbereitet, um diese oder jene Specialität der Waldwohnung etc. befragen, so hatte sie sofort die genaueste, präciseste und mit ihren früheren Aussagen stets auf’s Schärfste klappende Antwort zur Hand.

Inzwischen begann die Broschüre zu wirken. Die österreichische Regierung ließ es an nichts fehlen, dem Verbrechen, das innerhalb ihrer Grenzen begangen schien, auf die Spur zu kommen. Ein Hauptmann-Auditor der österreichischen Besatzung zu Mainz ist oftmals in dieser Sache, höherem Auftrage zufolge, hier gewesen und hat aus eigener Anschauung ausführlich darüber nach Wien berichtet,[1] und ein k. k. Rath der obersten Polizeibehörde dortselbst, Referent in Carolinens Angelegenheit, hat im Juli und November 1856 unsere Stadt dieserhalb ebenfalls besucht. Nachdem er Carolinen drei Mal mehrere Stunden lang verhört hatte, gelangte er zu dem Resultate: daß er zwar von ihr nichts erfahren, was nicht schon in der Broschüre über sie gesagt sei – das dort Gesagte aber mit ihren eigenen Aussagen völlig übereinstimmend gefunden habe; auch spreche sie das Ungarische in einer Weise aus, wie es nur bei eingebornen Ungarn vorkomme. Also selbst gewiegten Inquirenten gegenüber wußte sich Caroline völlig im Sattel zu behaupten. Wer hätte da noch zweifeln mögen?!

Aber noch mehr! Im Sommer 1856 gelangte an Herrn Eck, nachdem ihm schon früher gegründete Aussicht eröffnet worden, dem Verbrechen auf die Fersen zu kommen, plötzlich aus zuverlässiger Quelle die Mittheilung: daß das Schloß, worin Carolinens Wiege stand, gefunden sei! Die davon in der Broschüre gegebene Beschreibung stimmte bis auf wenige Kleinigkeiten. Das konnten indeß Veränderungen sein, die das Schloß inzwischen erfahren hatte, oder Caroline irrte in der Erinnerung. Sie bestand jedoch fest auf ihren früheren Angaben, und das war wieder sehr klug. Weiter hörte man jedoch nichts mehr von der Sache, aus dem sehr leicht erklärlichen Grunde, weil ein Schloß, das gar nicht existirte, auch nicht gefunden werden konnte.

Allein immer noch mehr Thatsachen häuften sich, Carolinens Glaubwürdigkeit zu erhöhen. Jenes Schloß meinte man nicht in Ungarn selbst, sondern im Großfürstenthum Siebenbürgen gefunden. Einige Wochen nach dem Eintreffen dieser Kunde kam ein ehemaliger ungarischer Geistlicher, in allen Dialekten des Landes wohl erfahren, hierher, um Carolinen zu sehen und zu sprechen. Diesem gelang es, sich besser mit ihr zu verständigen, als allen früheren Personen, welche ungarisch mit ihr zu reden versuchten. Nach der Unterredung bezeichnete er Herrn Eck dieselbe Gegend Siebenbürgens, worin sich angeblich das Schloß gefunden haben sollte (wovon er jedoch nichts wußte!), auch als diejenige, worin die von Carolinen gesprochene, eigenthümlich gemischte magyarische Mundart heimisch sei. So schien sich Alles zu vereinigen, Caroline in ihren Aussagen zu unterstützen.

In der früher in diesen Blättern erschienenen Mittheilung über die Unbekannte ist gesagt, daß man vor Allem hätte den Versuch machen sollen, sie unter Begleitung den Weg durch Feld und Wald und Dorf wieder auffinden zu lassen, auf dem sie nach ihrer Aussetzung durch Bertha nach Weiskirchen gelangt war, von wo sie andern Tages nach Offenbach abgeliefert worden.


  1. Außer den ausführlichen Protokollen wurden auch Carolinens Schreibhefte, das Verzeichniß ihres ungarischen Wortvorraths und ihre Photograpbie nach Wien geschickt; ebenso das lithographische Portrait eines jugendlich-schönen Mannes mit Schnurr- und Kinnbart, und in umgeworfenem Mantel, vor dem sie oft in stille Betrachtung versenkt stand, und von dem sie behauptete: so habe ihr Papa auf dem Bilde in der Waldwohnung ausgesehen, – es war das bekannte Portrait des Sängers Pischek, das vermuthlich in den Archiven der obersten Polizeibehörde zu Wien noch heute ruht.


(Fortsetzung folgt.)




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 722. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_722.jpg&oldid=- (Version vom 13.12.2020)