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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

das aufgejagte Wild so lange, bis es ihm gelingt, sich auf dessen Halse einzukrallen und ihm mit scharfem Schnabelhiebe die Augen zu treffen.

So feig der Wolf allein und zur Sommerszeit ist, wo er überall in der weiten Steppe Nahrung zur Genüge findet, so gefährlich und blutdürstig wird er in der Periode des Mangels, in der er viribus unitis jagt und selbst dem gewissen Tode stier entgegenrennt, wenn ihn der unbezähmbare Hunger treibt. Dann kommt er von weit her aus den Wäldern gewandert und umschleicht allnächtlich mit grausigem Geheul die Ansiedelungen; nicht selten wagt er sich sogar in deren Mitte und holt, trotz des Gebells der Hunde, ein Kalb, ein Schaf, ein Huhn aus den schlecht verwahrten Winterstallungen. Vor den Hunden der gewöhnlichen Race fürchtet er sich nicht, wohl aber diese vor ihm, sie setzen, wenn auch in noch so großer Ueberzahl, seinen Angriffen nur ein wüthendes Bellen entgegen, ohne ihn selber zu fassen. Erst wenn sie einen sicheren Rückhalt an den erweckten Bewohnern haben, lassen sie sich zuweilen zur Offensive bewegen, ziehen jedoch gewöhnlich dabei den Kürzeren. Aber nicht allein Hausthiere in großer Zahl, auch Menschen fallen alljährlich den grausamen Raubthieren als Opfer. Noch ist in Odessa die Erinnerung wach an einen entsetzlichen Fall aus dem Winter von 1857 auf 1858. Die Gattin eines der Redacteure des Odesskii Wjästnik (Odessaer Bote), der gelesensten Zeitung in Neurußland, Madame Troinizky, fuhr an einem schönen Sonntagmorgen mit ihrer erwachsenen Tochter im Schlitten auf’s Land, 24 Werst weit, ich glaube, um einer Hochzeit beizuwohnen. Nachdem sie ungefähr die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten, veränderte sich das Wetter und ein heftiges Schneegestöber schlug den Reisenden in das Antlitz. Bald darauf wurden plötzlich die Pferde des Dreigespanns seltsam unruhig, die Damen wandten sich besorgt um – da waren die Verderber über ihnen, ein großes Rudel Wölfe jagte wie rasend hinter dem Gefährte drein, deutlich gewannen ihre schwarzen Leiber auf dem weißen Schnee stets einen größeren Vorsprung. Mit gellendem Angstschrei riefen die Frauen dem Iswostschik zu, dieser, betäubt, voll Furcht, vielleicht auch betrunken – wer weiß es, aber es ist zehn Mal eher möglich, als das Gegentheil – hieb mit rasender Wucht auf die Pferde ein, daß sie, mit plötzlichem Anzuge sich in das Geschirr werfend, dahinstoben, gleich dem Sturmwinde. Aber der leichte Schlitten schlug bei dem heftigen Anpralle halb um, Mutter und Tochter wurden herausgeschleudert, entsetzlich scholl ihr Hülfegeschrei dem dahinjagenden Kutscher nach – umsonst, der sah sich nicht um, der hörte nicht, er fuhr davon, wie toll, bis in’s nächste Dorf. Als er sich da zum ersten Male wandte, erblickte er nur den geleerten Schlitten hinter sich. Freilich warfen sich sofort einige muthige Männer auf Pferde und ritten zurück, um zu retten, wenn Rettung möglich sei – aber sie kamen zu spät. Noch erblickten sie die enteilenden Wölfe, aber auf dem blutgetränkten Wahlplatze fanden sie nichts, als einen Damenhut und einen Schuh. Und doch war noch ein Wunder dabei. Denn während die Männer wieder langsam heimritten, erscholl auf einmal ein Hülferuf, wie aus den Tiefen der Erde, vorsichtig naheten sie sich der Stelle – da lag in einer Grube, ganz vom Schnee bedeckt, dem Tode nahe vor Schrecken und Frost, die jugendliche Tochter der unglücklichen Mutter. Beide Frauen waren ein Stück dem Schlitten nachgelaufen, die ältere war aber bald zusammengebrochen, während die jüngere plötzlich durch die Schneedecke in eine tiefe Höhlung stürzte, gewiß zu ihrem Heil; die Stimmen der Vorbeireitenden erweckten sie zum Leben. – – –




Ein internationaler Congreß der Zukunft.

Von E. A. Roßmäßler.
– nicht vergessend, daß der größere Theil des Klima’s nicht an dem Orte selbst, wo die Entholzung vorgeht, sondern viele hundert Meilen davon gemacht wird.
Alexander von Humboldt, brieflich den 6. März 1858.

Mehr als Eisenbahnverkehr und Zolleinigung, mehr als Post- und Telegraphenverbindung scheint für die Zukunft das Wasser berufen zu sein, die internationale Freundnachbarlichkeit der Staatsverwaltungen über weite Grenzen hin auszudehnen und zu einem Schutz- und Trutzbündniß gegen die größten Gefahren zu gestalten.

Der Wald wird dabei die Vermittler-Rolle übernehmen.

Es ist mindestens eine auffallende Erscheinung zu nennen, daß bereits seit Jahrzehenden in mehr oder weniger ausgeführter Weise auf den klimabedingenden Einfluß der Waldungen hingewiesen wird, unter Anführung der erschreckendsten Beispiele von den Folgen der Entwaldung, und daß dennoch diese Frage, unseres Wissens wenigstens, noch von keiner Seite praktisch zu einer internationalen erhoben worden ist.

Man spricht von Privat-, Gemeinde- und Staats-Waldbesitz, aber von internationalem spricht man nicht, d. h. von solchem, an welchem nicht blos diejenige Nation oder derjenige Staat ein Eigenthumsrecht hat, auf dessen Gebiete er liegt, sondern an dem auch andere, und zwar nicht immer blos die unmittelbar benachbarten, Staaten ein klimatisches Nutznießungsrecht geltend zu machen haben, oder wenigstens geltend machen sollten.

Der Wald hat das Unglück, von aller Welt geliebt und dabei von aller Welt verkannt zu werden. Von der poetischen Waldliebe an, zu der sich Jedermann bekennt, bis zu der staatsweisen Waldbewirthschaftung treffen doch weder diese beiden Endpunkte, noch eine der zahlreichen dazwischenliegenden Abstufungen das Wahre, den Kernpunkt in der Beurtheilung des Werthes der Waldungen. Diese Behauptung wird nicht widerlegt durch die Tausende, denn Viele sind deren allerdings bereits, welche den Schwerpunkt des Waldes an die richtige Stelle legen: in seine klimatische Bedeutung. Einzelne, und wären ihrer Hunderttausende, zählen nicht, so lange die Ueberzeugung von dieser Bedeutung des Waldes die Regierungen nicht durchdrungen, und mehr noch, so lange nicht ein gemeinsames, von gleichem Sinne beseeltes Vorgehen in diesem Punkte verbündeter Regierungen thatsächlich besteht.

Es ist hier nicht die Veranlassung, wenn auch nur von den deutschen Waldungen, von Julius Cäsar’s Zeit an bis heute die Wandlungen aufzuzählen, welche die Auffassung von dem Werthe und der Bedeutung des Waldes durchlaufen hat. Bis vor nicht langer Zeit galt es als höchste und staatsweiseste Auffassung, den Wald so zu bewirthschaften, daß er eine nachhaltige Quelle der Befriedigung des Holzbedarfes der Staatsangehörigen sei und bleibe.

Heute stehen wir an dem Punkte, von wo an die klimatische Bedeutung des Waldes als die höchste und am meisten maßgebende erkannt zu werden anfängt; und ich trage keinen Augenblick Bedenken, es auszusprechen: wir sind höchst wahrscheinlich auf dem Punkte bereits angekommen, von welchem aus jede wesentliche Verminderung unserer mitteleuropäischen Waldbestände ein Verbrechen an der Zukunft ist.

Ich sage mitteleuropäischen, nicht deutschen; denn das „international“ soll sich nicht auf die 36 Staaten des Bundesstaates Deutschland beziehen, sondern auf die Nationen, welche im Mittelpunkte Europa’s aneinander grenzen und, wenn nicht mit den Waldungen mehrgenannter Auffassung gemäß verfahren wird, mit allen Continentalklima’s von ihrem Gebiete abzuhalten, während jezt die geringe Festlandsmasse Europa’s sich beinahe eines Küstenklima’s erfreut. Allerdings ist Deutschland am meisten betheiligt, weil es als Mittelpunkt dieses Gebietes bei dieser Veränderung am meisten zu leiden haben würde.

Die klimatischen Zustände des bezeichneten Gebietes, für welches ich die südlichen und westlichen Gebirgszüge, Nord- und Ostsee und die russisch-polnische Linie als Begrenzung annehme, sind ein zusammenhängendes Ganze und machen daher als solches auch jenes Gebiet selbst zu einem Ganzen.

Es ist daher der Mittel- und Norddeutsche am Fortbestande der Gebirgswälder im Süden betheiligt, alle Rheinanwohner sind mit ihren Interessen, so weit dieselben mit dem Rheinstrome zusammenhängen, an die Waldungen des Quellgebietes des Rheines gefesselt. Also nicht blos der Deutsche, sondern auch der Franzose und Holländer ist von dem Gebahren des Schweizers abhängig.

Und das ist nur die handgreifliche Seite der Frage, die Auffassung der Waldgebirge als Heger und Pfleger der Quellen, aus

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 218. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_218.jpg&oldid=- (Version vom 12.5.2023)