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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

zu entgehen. Außer Fischen pflegen sie auch noch in der Umgegend Krebse zu fangen und den Taugenichtsen, welche aus irgend welchen Gründen nicht an den polizeilich bezeichneten Stellen baden wollen, seichte und sichre Ufer zu zeigen.

Zwischen diesen im Ganzen genommen noch harmlosen Gentlemen und den eigentlichen Herren von Grün besteht ein großer Unterschied. Wir begegnen bei den Jägern und Fischern immer noch einer gewissen schwachen Thätigkeit, wenigstens einem Kraftaufwande; der Leser muß uns jetzt seitab von der Straße der bürgerlichen Wohlanständigkeit folgen, dorthin, wo die Wirklichkeit sich den spähenden Augen der Schutzmannschaft entzieht und höchstens ein reitender Gensd’arm die freie Kunst unserer Studienobjecte beeinträchtigt.

Wir spazieren gemüthlich in einem Baumgange neben der Chaussee, der Himmel strahlt in köstlicher Bläue, die Vögel, die im August noch nicht die Stimme verloren haben, singen einstimmig, ein kühler Lufthauch flattert aus dem Parkdickicht an die sonnenhelle warme Landstraße; wir fühlen uns zu allerlei poetischen Scherzen aufgelegt. Da tritt hinter einer dicken Eiche ein Mann hervor und nähert sich uns mit dem Gebehrdenspiele eines Fechters um klingende Münze. Sein Haupt ist mit einem Filzhute bedeckt, der in seinen Mußestunden ihm als Kopfkissen dient, aber seine Füße werden weder durch Schuhe, noch durch Strümpfe behelligt. Er trägt einen Rock, der im Drange der Ereignisse die unbestimmte Farbe vielfach umhergeworfener politischer Charaktere angenommen hat. Der Rock kann roth, aber auch weiß und schwarz gewesen sein; wer wagte es dreist zu behaupten? Von einem Hemde oder anderweitigen Andeutungen von Wäsche ist keine Spur zu entdecken. Als Luxusgegenstand hält der Unbekannte nur einen jungen Baumstamm von zwei Zoll Dicke mit dem Anstande eines wilden Mannes auf alten preußischen Thalern in der Rechten. Wir erschrecken keinesweges vor diesem echten Herrn Grün. Er bittet mit etwas lallender Stimme um Brod, aber wenn wir ihm folgen wollten, würden wir sehr bald entdecken, daß er nur nach „Brod in tropfbarer Gestalt“ strebt, wie die modernen Herren Chemiker den Branntewein scherzhafter Weise nennen. Dieser ist ein echter Sprößling aus dem Hause derer von Grün. Im bürgerlichen Leben zu den wildwachsenden Pflanzen gehörig, oder doch nahe am Zaune der Gesetzgebung emporschießend, wird er von einem unwiderstehlichen Drange hinausgetrieben in den Wald, in die Fluren, an die Landstraßen. In die regelrecht zugestutzte Wirklichkeit ist er auf keine Weise zu fügen, es sei denn, man finge noch einmal mit seiner Erziehung im Arbeitshause oder einem ähnlichen Institute für die Heranbildung vernachlässigter Staatsbürger an. Frei wie der Vogel in der Luft, vorausgesetzt, daß er sich immer rechtzeitig in den Chausseegraben niederducken oder im Korn und in Gebüschen verstecken kann, wenn ein mit der Absuchung der Chausseen beauftragter Schutzmann vorüberreitet, blüht er den Sommer über zwischen den Mauern Berlins und den Dörfern, innerhalb des zweimeiligen Belagerungskreises, dieser einzigen Glorie großer Städte. Niemand hat ihn essen, viele trinken und trunken gesehen. Der Umgang mit der Natur versetzt ihn in einen Zustand der Begeisterung, dem er gern durch künstliche Mittel nachhilft. Zu den producirenden Naturen können jedoch diese Herren von Grün nicht gerechnet werden, von Papieren führen sie nur die zu ihrer Legitimation nothwendigen bei sich, und oft selbst diese nicht, da die Actenstücke ihres Lebens von den Kinderjahren an selten vollständig, häufig durch Ereignisse in Unordnung gebracht, und zuweilen sogar wegen entscheidender Thaten durch amtlich untersiegelte und im Namen des Königs ausgestellte Papiere bereichert sind, welche die rechtmäßigen Besitzer derselben nichtsdestoweniger Niemandem gern zu zeigen, sondern meistens ganz zu verheimlichen lieben. Sie besitzen dennoch ein gewisses löbliches Selbstgefühl und tragen ihre Gesuche nur im Tone einer sanften Ansprache vor. Selten kommt es vor, daß sie mit einiger Zuversicht aus dem Gebüsch treten, sich einer einzeln gehenden Dame anschließen, und nicht eher mit rhetorischen Uebungen und ausdrucksvoller Mimik aufhören, bis die Dame ihnen ihr Portemonnaie gegeben hat, oder ein Herr mit einem Rosse sich nähert. Eigentlich stellt dieser Mann mir den Flaneur unter den Herren von Grün vor.

Eine sehr anziehende Species sind die Reisenden. Wir sagen absichtlich nicht: der Reisende, da sie, wenn auch nicht in Heerden, doch immer in kleinen Trupps leben. Die Reisenden isoliren sich nicht in einer gleich poetischen Weise, sie entfernen sich niemals so weit von den Wohnungen der Menschen; sie suchen nur einsamere Partieen stiller Parkgegenden und poetische Kreuzwege in der Gegend von Orten auf, wo lediglich ein wohlhabendes Publicum verkehrt. Die Umgebung des zoologischen Gartens ist ihnen aus diesem Grunde besonders lieb und werth. Ganz in der Nähe ihres Aufenthaltes muß immer ein anmuthiger Versteck vorhanden sein, um sich nach Umständen den Augen der Polizei entziehen zu können. Auch lieben sie einen weichen Rasen, auf welchen die Sonne durch Zweige und Land ihre Schattengitter wirft. Wenn man vorübergeht oder in einem Wagen vorüberfährt, findet man gewöhnlich die Reisenden ausgestreckt, und anscheinend von Erschöpfung überwältigt, am Boden liegen. Ihre Stiefeln sind dick mit Staub bedeckt, ihre Gesichter erhitzt und von Schweißtropfen glänzend, sie haben ihre Tornister und Taschen abgelegt, und scheinen vor ihrem Einzuge in Berlin noch einer nothwendigen Ruhe zu pflegen. Nur Einer springt mühselig auf, zieht die Mütze und humpelt neben dem Wagen oder dem raschen Fußgänger her, indem er um eine kleine Gabe für die armen Reisenden bittet. Die Berliner Herzen sind nicht von Kieselstein, fast immer wird die Börse gezogen und eine reichlichere Spende gereicht, wie man sie nach der Ermahnung Vater Goethe’s gern den armen Handwerksburschen unterwegs zuzuwenden pflegt. Mit tausend Danksagungen entfernt sich der Empfänger wieder zu seinen Genossen, und der Geber zieht mit befriedigtem Herzen seines Weges weiter. Will er aber nicht um eine anmuthige Selbsttäuschung ärmer sein, so hüte er sich, jemals wieder diesen Weg zu machen. Er würde die unglücklichen Reisenden morgen, in acht Tagen, in vier Wochen mit denselben bestäubten Stiefeln, den abgelegten Tornistern und Taschen, an der Straße lagernd wiederfinden und nach derselben Melodie angesprochen werden. Wie der Leser sieht, gehören sie unter die ewigen Reisenden oder künstlichen Handwerksburschen, und ernähren sich vortrefflich bei diesem nicht zünftigen Gewerbe. Ihr Gepäck besteht nur in einigen mit Wachsleinwand umwickelten Feldsteinen, ihr Wanderbuch in einem auf diese oder jene entfernte Provinzialstadt ausgestellten Zwangspaß. Meistens werden sie aber erst mit dem Eintritt des Altweibersommers entlarvt und erwischt, weil alsdann die Promenaden und Spazierfahrten durch die einsameren Partien des Thiergartens aufhören, und sie gezwungen sind, ihr Geschäft an der großen Landstraße fortzusetzen. Selten gelingt es ihnen jedoch, länger als drei bis vier Tage ungestört zu bleiben; das anmuthige Spiel endet stets mit einer Abführung in die Winterquartiere am Molkenmarkt.

Der Auswanderer würden wir gern ausführlich erwähnen, wenn wir unserer Sache ganz gewiß wären, und diese blassen Familien mit ihren verhungerten Kindern, in elenden, mit Sackleinwand überzogenen Handwagen, nicht der Wohlthätigkeit ihrer Mitmenschen wirklich bedürftig sein könnten. Als Thatsache sei nur bemerkt, daß auch sie Wochen lang durch Berlin „auswandern“; aber wir wollen dieses arme Volk mit jeder scherzhaften Bemerkung verschonen und ihm lieber so heimlich als möglich, damit die Polizei nicht aufmerksam wird, ein blankes Stück Geld in die Hand drücken.

Wir kommen jetzt zu einer herrlichen, wahrhaft poetischen Classe der Herren von Grün. Dicht vor dem Brandenburger und Potsdamer Thore liegt der Thiergarten, ein wundervoller Park, der nur

in seinen nahe an die Stadt grenzenden Theilen etwas gelichtet worden und wenig Unterholz besitzt, zum größeren Theile aber sehr dicht bewachsen ist, und kräftige Constitutionen zu einem dauernden Aufenthalt im Freien einladet. In diesen Dickichten halten sich die Berliner Indianer auf, keine echten Autochthonen, aber kühne Einwanderer. Der Thiergarten ist kein Urwald und außer Singvögeln, Maulwürfen und Eichhörnchen bietet er schwerlich Wild dar; unsere Indianer sind deshalb gezwungen, auf das edle Waidwerk zu verzichten und eine andere Lebensweise zu ergreifen. Längs des Thiergartens zieht sich eine schmale Prairie hin, in welcher sich unter dem bekannten Namen der Thiergartenstraße eine dichte Reihe von Ansiedlungen befindet. Im Sommer wird dieselbe durch Zuzügler vermehrt, und dem geistreichen Bettel oder dem eleganten Diebstahl unserer Indianer ein ziemlich weiter Spielraum eröffnet. Den Tag über streifen sie umher und geben Gastrollen, als arbeitslose Familienväter mit sechs oder sieben kleinen Würmern, apoplektische oder mit den Gliedern zitternde Patienten, und wie die üblichen Masken sonst heißen mögen; von Sonnenuntergang an werden sie jedoch Raubthiere minder gefährlicher Art. Mord und Raub nebst Brandstiftung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 500. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_500.jpg&oldid=- (Version vom 2.9.2023)