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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

aller Art bemitleideten, ehrten ihn, und abgehärtete Kerkerdiener sprachen weicher, scheuer, wenn sie zu ihm sprachen. Der Zuchthausdirector Schnuggel vermochte es nur einen Monat, ihn streng nach der „Instruction“ zu behandeln, und schützte ihn später sogar vor den religiösen An- und Uebergriffen, die nach der „Instruction“ gegen ihn versucht wurden. Schon nach einem Monate erlöste er ihn von der Spule, gab ihm schriftliche Arbeiten, deutsche Classiker und Zeit zu eigener schriftstellerischer Beschäftigungen.

Im April 1850 erschien plötzlich der Polizeioberst Patzke in Naugardt und holte den zu lebenslänglichem Zuchthaus Begnadigten ab nach Köln auf eine neue Anklagebank und vor einen Staatsanwalt, der „wegen Aufreizung zur Bewaffnung bei den Aufständen in Düsseldorf und Elberfeld“ eine neue, längere Bestrafung des „Begnadigten“ verlangte. „La galera per la vita e dieci anni dopo la morte“. „Lebenslängliche Galeerenstrafe bis zehn Jahre nach dem Tode“. So heißt die Formel für lebenslänglich Verurtheilte im Kirchenstaate, die auch bei einer Amnestie keine Gnade zu erwarten haben.

Frau Kinkel, mit den Kindern bei den Eltern, einst die Auserwählte, der jetzigen Königin von Preußen auf dem Piano vorzutragen, und später in ihren berühmten Soiréen zu Poppelsdorf gelegentlich von Mitgliedern der preußischen Königsfamilie besucht, hatte endlich Erlaubniß ausgewirkt, bei dieser Gelegenheit ihren unglücklichen Gatten sehen zu dürfen.

(Schluß folgt.)




Vom verlassenen Bruderstamme.

Nr. 3.0 Das danisirte Irrenhaus.


Bei meinem Aufenthalt in Venedig vor einigen Jahren fuhr ich vom Molo nach San Servolo, dem Irrenhaus der Lagunenstadt. Ein hohes, in byzantinischem Styl gebautes Thor, dessen Marmorpfeiler von den Wellen der Lagunen bespült werden, führt in diese düstern und traurigen Räume; über dem obern Bogen des Thors liest man die goldenen Worte: „Fate bene fratelli!“ (Thut Gutes, Brüder!) Die Unterhaltung von San Servolo wird theils von der venezianischen Commun, theils von den Gaben reicher und wohlthätiger Signori, theils von den Mitteln des Ordens beschafft, dessen Wahlspruch in goldenen Lettern über dem Bogen des byzantinischen Thores steht. Im Sprachzimmer des Klosters empfing mich der Pater vom Orden der barmherzigen Brüder, der in San Servolo die Stelle des Arztes bekleidet. Er war ein Mann in der Mitte der Vierziger; sein Haar war schwarz und gelockt, seine Augen voll Intelligenz und Wohlwollen, seine Tournüre ganz die eines Weltmannes, ohne allen klösterlichen und mönchischen Anstrich, gewandt und zuvorkommend; über seinem sonst weltlichen Anzug trug er das lange, schwarze Ordenskleid der barmherzigen Brüder. Er führte mich in den langen und hohen Krankensälen, in denen an hundert Betten standen, in den obern Räumen des Klosters, in denen die Idioten und Wahnsinnigen wohnten, und in dem großen Garten, dessen Kiesgänge Pinien und Cypressen beschatteten, während mehrerer Stunden umher und erzählte mir von seinen Kranken, von seinen Heilmethoden und von seiner Apotheke, in der er die theuerste Arznei ohne jede Rücksicht auf die Dosis verschriebe, wenn die Arznei für die Kranken nothwendig sei. Die Krankensäle waren außerordentlich sauber gehalten, Betten, Kissen und Bettlaken waren von untadelhafter Reinheit; es herrschte überall eine musterhafte Ordnung; hohe Repositorien, welche vom Boden bis an die Decke reichten, enthielten die Krankheitsgeschichten und die bei sämmtlichen Kranken angewandten Heilmethoden.

Im Garten sah ich die Idioten. Sie standen auf den mannigfaltigsten Stufen der menschlichen oder, wenn man will, der thierischen Entwickelung. Ich sah sie, wie sie umherschlichen, die Füße nach auswärts gerichtet, mit schleppendem Gange und schlotternden Knieen, fast ohne Bewußtsein, dann, wie sie bereits reinlich und mäßig geworden waren, wie sie gelernt hatten, Gegenstände zu unterscheiden. „Sehen Sie dort in die Ecke,“ sagte der Arzt, „da kauert ein Wesen, das auf der niedrigsten Stufe der Menschheit steht, so habe ich während der letzten drei Jahre fast zweihundert hier gehabt; in diesem entsetzlichen Zustande sind von jenen zweihundert nur zwanzig geblieben.“

Abends saßen wir auf dem Platze an der südlichen Seite des Klosters, wo die in den untern Sälen befindlichen Kranken sich zu ergehen pflegen und die Luft des Meeres einathmen. Der Platz war mit Marmorfließen gepflastert und mit Bänken von rothem Marmor eingefaßt. Weit streifte der Blick über die blauen Wellen der Lagunen, welche jetzt von den Strahlen der untergehenden Sonne in ihren farbenreichen, duftigen Mantel mit den purpurnen Falten und den goldenen Sternen gekleidet wurden; bunte Barken und schwarze Gondeln flogen vorüber; auf den weißen Lagunenpfählen funkelten rothe Sonnenlichter, und am Horizont stieg die Stadt der Marmorpaläste aus den Fluthen, wie ein verkörpertes Bild aus einem Zaubermärchen – die jetzt trauernde Königin der Adria. Ruhe und tiefe Stille lag auf den Wassern, wie ein süßes Geheimniß; dann schwebten vom Bord einer Gondel die weichen Töne einer Barcarole zu uns herüber. Es waren Stanzen aus Tasso’s befreitem Jerusalem, aber in den klangreichen, venetianischen Dialekt übertragen, der so süß an das Ohr tönt, wie die Saiten einer edlen Geige, wenn sie die Meisterhand einer Milanollo vibriren läßt. Dann wurde es drüben hell in der Stadt aus dem Zaubermärchen; erst flammten einzelne Funken und Lichter auf in den arabischen und gothischen Fensterbogen, dann blickte die ganze, lange Reihe von Palästen mit Feueraugen auf die Lagunen, und über ihnen legte sich ein weiter, goldener Reflex über den dunkeln Abendhimmel, wie der farbige Schein eines Nordlichts. Es war der Reflex der strahlenden Gasflammen, welche den prächtigsten Salon der Erde, den Marcusplatz, erleuchten. Von dem Thurme, der an jenem Platze schlank empor ragt, schlug die Stunde, wo sich dort Abends aus ganz Europa die Gesellschaft zu versammeln pflegt, welche sich vorzugsweise „le gens du monde“ nennt, Alles, was in England, Frankreich und Deutschland reich und vornehm ist, was Champagner trinkt und in allen Genüssen des Lebens schwelgt. Lange waren Tasso’s Stanzen verklungen; nun schwebten die Töne eines Walzers aus einer Verdi’schen Oper über den Wassern. Es war die Tanzmusik vom Marcusplatz!

„Nicht wahr, es ist schön hier, Signor Dottore?“ sagte der Arzt mit seiner weichen, klingenden Stimme, als ich lange hinausgeblickt hatte über die stille, ruhige Wasserebene; „ich führe auch immer die armen Geisteskranken hierher. Das ist ein Bild voll Bewegung und Freiheit; der Drang nach Freiheit ist ja ein Hauptgrundzug in dem Wesen aller Wahnsinnigen.“

„Wie viel Aerzte haben Sie denn zu Ihrer Unterstützung, Signor?“ fragte ich. „Wenn ich nicht irre, habe ich hier unten an hundert Kranke gezählt, und oben sind wenigstens dreißig Wahnsinnige, und im Garten waren gewiß fünfzig Idioten.“

„Es ist so; Sie haben sich nicht geirrt. Ich bin der einzige Arzt in San Servolo.“

„Allein?“ rief ich erstaunt. „Alles das thun Sie allein? Wie ist das möglich?“

„Drei Brüder unsers Ordens sind mir zur Hülfe gegeben; aber sie sind nicht Aerzte; sie thun nur die gewöhnlichen ärztlichen Handreichungen, woran ich sie gewöhnt habe.“

Mein Erstaunen wuchs. „Wie lange sind Sie denn schon hier, Signor?“

„Fünf Jahre; vielleicht werde ich immer hier bleiben. Ich bin nicht von unserm Orden hierher gesandt. Freiwillig habe ich meinen Platz gewählt. Sie haben ja den Spruch unsers Ordens über dem Thore gelesen; ich gehorche nur dem ersten und höchsten Gebot des Christenthums, wenn ich ihn erfülle.“

„Da können Sie das Haus ja selten oder gar nicht verlassen; ich sah Sie auch nie Abends auf dem Marcusplatz. Können Sie sich denn Ihr schweres Amt nicht erleichtern?“

Der Bruder vom Orden der barmherzigen Brüder lächelte.

„Nein,“ sagte er, „ich war schon lange, lange nicht auf dem Marcusplatz. Der Orden ist arm, auch San Servolo ist arm; einen zweiten Arzt kann der Orden nicht senden. Ich sagte Ihnen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 24. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_024.jpg&oldid=- (Version vom 29.4.2020)