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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)


höchst charakteristische Burzeldorn, dessen lange, peitschenförmige Triebe in den öden weißen Sand sich hinstrecken und dort ihre zierlichen ordensternförmigen Früchte, die der Magyare mit dem sonderbaren Namen „Königs-Melone“ (kiraly dinnye) belegt, zur Reife bringen – sind häufig genannte und zu sprachlichen Bildern oftmals benutzte Gewächse. Die populärste Pflanze in den ungarischen Poesien ist aber eine Grasart mit wehenden weißen, federigen Grannen, welche von den Ungarn sinnig „Waisenmädchenhaar“ (Arvaleányhaj) bezeichnet wird.

Der wissenschaftliche Name dieser Pflanze ist Stipa pennata L. Die Gattung, welcher sie angehört, umschließt durchgängig Arten, welche durch die Wachsthumsverhältnisse ebenso wie durch den physiognomischen Ausdruck übereinstimmen und auch darin mit einander übereinkommen, daß sie fast alle in den Steppengegenden und an sterilen sonnigen Plätzen ihre Heimath haben. Sie sind für das sandige Terrain der trocknen kontinentalen Bezirke in der alten Welt ebenso bezeichnend, wie die immergrünen Haidekräuter für die dem feuchteren Küstenklima ausgesetzten Heideländer, und sind daher als rechte Steppengewächse aufzufassen. Unter ihnen allen ist wohl das „Waisenmädchenhaar“ die verbreitetste Art. Es findet sich sporadisch im ganzen, südlichen Europa und dehnt seinen Verbreitungsbezirk sogar noch bis an den Mittelrhein, bis nach Südschweden und Kurland und bis an den Oberlauf der Wolga aus. Recht eigentlich es sie aber in den Steppenländern des südlichen europäischen Rußlands und in den Pußten Ungarns zu Hause; seine Rasen sind dort durch massenhaftes Auftreten sogar für die Physiognomie der Landschaft von Wichtigkeit, und es ist dort für die hügeligen, wolligen Grassteppen eine wahre Charakterpflanze.

Das ganze Gewächs ist 1 bis 3 Schuh hoch und treibt jährlich je nach dem Alter des Exemplares 1 bis 15 Halme aus dem an der Basis holzigen, dicht geschlossenen Rasen hervor. Das Halm- und Blattwerk sieht starr und spröde aus, die Blätter sind steif und fast borstenförmig und vermögen mit ihrer matten graugrünen Farbe der Fläche, die sie berasen, niemals ein frisches, lebendiges Ansehen zu geben. Die Entwicklung neuer Blätter und Halme beginnt erst im vorgerückten Frühling, gewöhnlich in der ersten Hälfte des Monats Mai, zu einer Zeit, wo die ersten Blüthen der Pußta, die kleinen zierlichen Gelbsterne und die krautige Vinca längst schon verblüht sind und wo auch die Frühlingsanemonen schon mit kugelförmigen haarigen Fruchtballen emporstarren. So wie aber im kontinentalen Osten alle von den Pflanzen durchzumachende Phasen der Entwicklung ungemein rasch auf einander folgen, so verdrängen sich auch bei diesem Steppengras die Stadien der Entfaltung des Blühens und Verwelkens in außerordentlich kurzen Zeiträumen, und wenige Tage, nachdem man aus dem alten, scheinbar abgedorrten Rasen die jungen Blätter und Halme sich hervorschieben sah, entfalten sich auf den letzteren auch schon die Blüthenrispen. Aus der obersten, etwas breiteren, rinnenförmig zusammengefalteten Blattscheide drängt sich jetzt ein Bündel schmiegsamer, haarförmiger Grannen hervor, das anfänglich wie ein silberglänzender Reiherbusch anzusehen ist, sich aber allmählich verlängert und in weiße im Winde wehende Fäden auflöst, deren jeder einer schlanken, zarten Feder vergleichbar ist. – Zu dieser Zeit hat die ganze Pflanzenformation, als deren tonangebende Pflanze eben das „Waisenmädchenhaar“ erscheint, den Culminationspunkt der Entwicklung erreicht. Ranunkeln, Nelken, Orchideen, eine zwerghafte, kaum spannhohe gelbe Schwertlilie, ein dem Boden sich anschmiegende, zottiger, gelbblühender Astragalus und vor allem die moschusduftende Jurinea, die mit distelähnlichen, purpurrothen Köpfen über die weißen Fäden der Stipa aufragt, stehen jetzt in voller Blüthe, und die Mehrzahl der für die Pußta so charakteristischen fiederblättrigen Schmetterlingsblüthler drängen gleichzeitig ihre Blüthenstände hervor.

Das Bild, welches diese Pflanzengruppe zu Ende des Monats Mai darbietet, ist unstreitig eines der reizendsten, welches die Vegetation der Pußtenwelt überhaupt aufzuweisen hat. Namentlich Abends, wenn die letzten Strahlen der Sonne, über die Steppe herüberspinnen, bietet dasselbe einen ganz einzigen Anblick dar. Wie Silberfäden schimmern dann die im Abendhauche wallenden federigen Grannen in dem magischen Lichte, mit dem die weite Fläche übergossen ist – aber nur noch einige aufblitzende Funken, und die Sonne ist hinabgesunken; die Flamme der Abendröthe lodert jetzt im Westen empor, und mit scharfer Linie grenzt sich dort die Erde von dem brennenden Himmel ab, die Grassteppe aber ist plötzlich eintönig und farblos geworden; im Vordergrunde wehen noch wie weiße Nebel die Fäden des „Waisenmädchenhaares“, aber in der Tiefe, wo sich die Fläche wie das Meer scheinbar ansteigend ausdehnt, ist das Land in unbestimmtes Zwielicht gehüllt. Endlich ist auch die flammende Abendröthe erblaßt, und Himmel und Erde fließen undeutlich in einander zu einer dunklen Masse, aus der nur hie und da ein aufblitzendes Hirtenfeuer herüberleuchtet.

Nur zu rasch aber ziehen diese Bilder vorüber, und schon im Juni vergilbt und vertrocknet unter dem sengenden Strahle der glühenden Sonne Alles, was da grünt und blüht, und wenn dann auch die milden Tage des Herbstes noch einige Blüthen auf der Pußta hervorlocken, so vermögen diese doch die Landschaft nicht mehr zu beleben, und zu einer Zeit, wo auf dem norddeutschen Haidelande das immergrüne Buschwerk des Haidekrautes in vollem Flor steht und sich ein von Millionen Blüthen erzeugter röthlich schimmernder Farbenton über die weite Fläche hinspinnt, ist die Pußta ein ödes, fast blüthenloses Land, das auf weithin nur mit abgedorrten Stauden und fahlgelben, im Herbstwinde schwankenden Halmen bewachsen ist.

Daß die graziösen und schmiegsamen Grannen des für die Vegetation des ungarischen Tieflandes so bezeichnenden „Waisenmädchenhaares“ dem Bewohner der Pußta besonders in die Augen fielen und bei ihm eine bevorzugte Berücksichtigung fanden, wird nach dem Mitgetheilten nicht überraschen, und wir finden es um so mehr begreiflich, daß gerade diese Pflanze von den Magyaren zum Range eines nationalen Schmuckes erhoben wurde, als sie eines der wenigen Pußtengewächse ist, das auch nach dem Abdorren Form und Farbe nicht verändert und daher gewissermaßen als Immortelle benutzt werden kann. – So wie die Immortelle der Alpen, das weißzottige „Edelweiß“, bei dem Gebirgsbewohner nebst dem Gemsbart allgemein als Schmuck des Hutes erscheint, ebenso figurirt bei dem Bewohner der Pußta neben den schmucken Federn des Silberreihers allgemein ein Bündel aus den Grannen des „Waisenmädchenhaares“ als Zierde der Kopfbedeckung. In den Volksliedern spielt dieses Federgras dieselbe Rolle wie etwa die Alpenrose in den Poesien des Aelplers, und wir schließen diese Zeilen, indem wir die ersten Verse eines magyarischen Volksliedes in deutscher Uebersetzung wiedergeben, welche speciell dieser Pflanze gewidmet sind und die folgendermaßen lauten:

Mit Waisenmädchenhaar hab’ meine Mütze ich geschmückt,
Ein Waisenmädchen hab’ ich mir zum Liebchen auserwählt.
Das erste hab’ ich aus der weiten Pußta mir gepflückt,
Im Dorfe fand das Mädchen ich, das mir so wohl gefällt.




Kleine amerikanische Sittenbilder.

3.0 Ein Bier-Musikant.

In einem der bessern deutschen Bierlocale von Douanestreet in New-York konnte man im Winter 1858 Abend für Abend eine Gestalt am Piano sitzen sehen, welche unwillkürlich die Aufmerksamkeit eines Jeden fesselte, dessen Blick auf sie fiel. Ein bleiches, in seltener Regelmäßigkeit geschnittenes, von einem dunkeln vollen Barte eingerahmtes Gesicht blickte völlig bewegungslos auf das leere Pult vor sich oder die darauf niedergelegten Noten, während die halberloschenen Augen todt für die Vorgänge in ihrem Gesichtskreise schienen; die hochgewachsene, gut bekleidete Gestalt saß steif und regungslos, die Hände auf den Knieen, und nur wenn der Violinspieler zur Seite des seltsamen Menschen die Hand auf dessen Schulter legte und ein paar leise Worte in sein Ohr sagte, hob dieser die Hände nach den Tasten und wandte das Auge dem Anfange der ihm vorgelegten Musikpièce zu; beide Bewegungen aber geschahen in so völlig automatenähnlicher Weise, daß den Zuschauer dabei ein noch unheimlicheres Gefühl als während der


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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_046.jpg&oldid=- (Version vom 30.4.2020)